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Mit einer neuen Methode versuchen Cyberkriminelle über Chat-Unterhaltungen Nacktbilder ihrer Opfer zu erhalten, um sie anschließend damit zu erpressen. Zwei Fallbeispiele.
Von Tim Stinauer
Fall 1:
Ein Freitagabend, 22.34 Uhr:
„Du bist ein schöner Mann“, kommentiert eine Person, die sich „Babette“ nennt, Felix‘ Profilbild auf Instagram. Der Jugendliche, der in Köln lebt, kennt keine Babette, aber er antwortet prompt: „Danke danke.“
Babette legt nach: „Sag mir, ob du allein oder in Gesellschaft lebst.“ Felix: „Ich bin alleine und du.“
Es ist der Beginn eines Chats, der sich über einige Tage hinziehen wird. Die Plauderei, die so harmlos anfängt, wurde zu einem Fall für die Kölner Polizei. Felix ist eines von hunderten Opfern, das im Internet auf eine Erpressermasche hereingefallen ist, vor der längst auch das Bundeskriminalamt (BKA) warnt.
Die Täter drohen dabei mit der Veröffentlichung von Nacktfotos oder -videos ihrer Opfer und verlangen Geld dafür, dass sie die Aufnahmen nicht an Freunde und Verwandte verbreiten. Das Chatprotokoll von Babette und Felix, deren Namen in diesem Text geändert sind, liegt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ in Auszügen vor.
Wer es liest, kriegt den Eindruck, dass Felix schnell geschmeichelt wirkt von der fremden Verehrerin:
Dass sie Felix mal duzt und dann wieder siezt, dass sie mal umgangssprachlich schreibt und dann wieder arg gestelzt – ein typisches Merkmal schlechter Übersetzungssoftware –, scheint der Kölner sich mit ihrer womöglich nichtdeutschen Herkunft zu erklären. Auch über die merkwürdigen Familienverhältnisse sieht er zunächst hinweg.
Schnell wird der Chat intimer
Babette bittet Felix, zur Plattform Google Hangouts zu wechseln, einer Software für Videochats. Felix lädt das Programm herunter, schaltet seine Webcam ein und zeigt sich Babette auf ihren Vorschlag hin nackt.
Und kaum, dass er seine Kleidung abgelegt hat, ändert sich ihr Tonfall abrupt. Sie postet eine Aufzeichnung des Video-Telefonats in den Chat.
Jetzt erst wird Felix klar, dass er es mit Kriminellen zu tun hat. Er schaltet die Polizei ein.
Kriminalisten sprechen bei dieser Masche von „Sextortion“, einer Wortschöpfung aus „Sex“ und dem englischen „Extortion“ für Erpressung. Wer nicht zahlen will, riskiert, dass die Täter die anzüglichen Aufnahmen ins Internet stellen oder an Freunde und Verwandte des Opfers schicken.
Rasante Fallzahlen
In Köln haben sich die Fallzahlen in den vergangenen drei Jahren verfünffacht, berichtet die Polizei. Im Jahr 2022 sind mehrere hundert Männer und auch einige Frauen auf die Erpresser hereingefallen – und das sind nur die Fälle, die auch bei der Kripo angezeigt wurden. Das Dunkelfeld dürfte erheblich sein, denn viele Opfer scheuen aus Scham den Weg zur Polizei. Manche zahlen lieber. So wie Lars und seine Mutter aus Köln.
Fall 2:
Als der 18-jährige Kölner morgens um drei Uhr in ihr Zimmer stürmt und ruft: „Es ist etwas Schreckliches passiert. Mein Leben ist zu Ende“, da sei sie im ersten Moment einem Herzinfarkt nahe gewesen, erinnert sich Anne Breuer (Namen geändert) im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Ihr Sohn hatte sich mitten in der Nacht mit einer Chatbekanntschaft auf ein Videotelefonat eingelassen und sich vor der Frau entblößt. Prompt fordert diese 300 Euro von ihm, zahlbar bis zum nächsten Morgen um 8 Uhr via Western Union. Andernfalls, so droht sie, würde sie das Video an Kontakte aus seiner Facebook-Freundesliste schicken.
Welche Mutter würde es nicht tun?
In aller Frühe fährt Anne Breuer mit ihrem Sohn zu einem Geldautomaten, hebt 300 Euro für ihn ab und setzt ihn an einer Western-Union-Filiale ab. „Welche Mutter würde das nicht tun?“, fragt sie. Aus Sorge, auch nur eine Minute zu spät zu kommen, sei sie sogar gegen eine Einbahnstraße gefahren. Am selben Tag informiert sie die Polizei.
Ich hatte Angst, er nimmt sich das Leben.
Der Erpresser bedankt sich für das Geld, meldet sich ein paar Tage später erneut und fordert noch mehr. „Aber das haben wir dann nicht mehr gemacht“, sagt Breuer. „Das ist ja ein Fass ohne Boden“. Aus Angst sei ihr Sohn erst einmal zu einem Freund ins Ruhrgebiet gefahren und ein paar Tage nicht zur Schule gegangen – so groß sei seine Panik gewesen, das Video vom nächtlichen Videochat könnte die Runde machen. „Ich kam in dieser Zeit gar nicht mehr an ihn heran“, erzählt Anne Breuer. Sie habe sogar Angst gehabt, er nehme sich das Leben.
Das sagt die Polizei
Wie schambesetzt das Thema ist, weiß kaum jemand besser als René Schreinemacher. Der Hauptkommissar von der Polizei Köln ermittelt in Fällen von „Sextortion“. In seinem Büro saßen schon Schüler, Heranwachsende, aber auch beruflich erfolgreiche Männer über 60.
„Viele bitten darum, bei Nachfragen keine Post von der Polizei nach Hause geschickt zu bekommen, sondern lieber anzurufen“, berichtet Schreinemacher. Viele Opfer sind verheiratet, manche haben Kinder. Für die Polizei ist eine Anzeige gleichwohl enorm wichtig, denn nur so kann sie die Täter verfolgen, Tatzusammenhänge herstellen und das wahre Ausmaß der Fälle einschätzen.
Nach Erkenntnissen der Ermittler sitzen viele Täter in Afrika, zum Beispiel an der Elfenbeinküste, in Mali oder Nigeria. Dorthin jedenfalls sollen die meisten Opfer das Geld überweisen. Neuerdings tauchen auch vermehrt Täter auf, die aus Bulgarien operieren und in Deutschland gezielt türkische Männer ansprechen.
Das Geschäft ist auf Masse ausgerichtet
Es sei davon auszugehen, sagt Ermittler Schreinemacher, dass die Täter mitunter in Banden organisiert seien, möglicherweise in Großraumbüros sitzen und mehrere Opfer gleichzeitig anschreiben. „Man kann sich das vorstellen wie Fließbandarbeit, dieses Delikt ist auf Masse ausgerichtet.“
Falls sich jemand weigert zu zahlen, landet das entsprechende Video nach den Erfahrungen der Polizei nicht zwangsläufig auch im Netz. „Aber um die Zahlungsbereitschaft zu erhöhen, schicken die Erpresser die Aufnahmen schon mal an eine Person aus der Facebook-Freundesliste des Geschädigten“, sagt Schreinemacher.
Polizeisprecher Carsten Rust erklärt im Video, wie sich Betroffene vor dieser Masche schützen können.
Das Leben von Lars Breuer hat sich inzwischen wieder normalisiert. Er habe sich irgendwann beruhigt, erzählt seine Mutter Anne. Die Erpresser haben sich nicht mehr gemeldet. Und auch das Video ist bis heute nirgendwo aufgetaucht.
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