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48 Stunden Leichlingen

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Die Flutkatstrophe

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„Dann ging alles ziemlich schnell. Das war wie in einem Film.

Ein Funken fiel aufs Wasser, die Wasseroberfläche fing an zu brennen.

Das Feuer lief durch die Wohnung nach hinten.“

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Der 14. Juli 2021

14. Juli 2021, 8.30 Uhr

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Es sind Sommerferien in Nordrhein-Westfalen und es regnet. Die Vorhersage kündigt mehr Regen an – wie viel genau, weiß niemand.

Leichlingens Bürgermeister und dessen Stellvertreter haben Urlaub. Ingolf Bergerhoff, Fachbereichsleiter für Soziales, Bildung und Sport ist die Person mit dem höchsten Dienstrang im Rathaus der Stadt.

Bergerhoff setzt sich an seinen Schreibtisch. Von seinem Büro im fünften Stock des Leichlinger Rathauses sieht er die Wupper, die neben dem Gebäude fließt. Ihm ist klar: „Wenn es gefährlich wird, muss ich das managen.“
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Zeitgleich, 8.30 Uhr

Schichtbeginn im Blumenpavillon. Maggy Richter-Frost, die Inhaberin, macht sich Sorgen, denn es regnet ununterbrochen. Sie fürchtet, dass es wie im Sommer 2018 kommen könnte. Damals floss Regenwasser die Kirchstraße hinunter und der Keller des Geschäfts lief voll.

Richter-Frost erwartet wegen des Wetters kaum Kundschaft. Sie nutzt die Zeit, um Sandsäcke vor den Außenschächten ihres Pavillons zu platzieren. Die hat sie schon am Dienstag mit Sand befüllt.
Sie räumt das Schaufenster aus, putzt die Scheiben und dekoriert neu.
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15 Uhr

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Andrea Wüstefeld, Besitzerin des Imbiss „Grill-Meister“ an einer Brücke über die Wupper, hört einen lauten Knall. Ein Auto ist mit hohem Tempo rückwärts in eine Scheibe des Ladens gefahren.

Wo jetzt das Unfallauto steht, waren Sekunden vorher noch Tische und Stühle. Weil es den ganzen Tag schon regnet, hatte sich niemand nach draußen gesetzt. Wüstefeld ist sicher: „Hätte da jemand gesessen, wäre er gestorben.“


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15 Uhr

Ingolf Bergerhoff schaut auf den Regenradar: Starkregen trifft die Stadt.
Zeitgleich kommen erste Meldungen seiner Kollegen an den Bächen in der Region. Es wird an mehreren Stellen kritisch.

Immerhin ist der Wasserstand der Wupper noch nicht gefährlich. Bergerhoff beschließt dennoch, den Krisenstab einzuberufen und wechselt dazu in die Feuerwache.

Ab sofort wird er gemeinsam mit Ordnungsamt, Tiefbau- und Hochbauamt, Presseamt und dem Bauhofleiter die Lage im Blick halten.

Bergerhoff schreibt Bürgermeister Frank Steffes eine WhatsApp-Nachricht und fragt: Warum passieren Katastrophen immer dann, wenn du im Urlaub bist? Bei der Flut im Jahr 2018 war es genauso.

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16 Uhr

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Die Wupper hat jetzt den Pegel erreicht, den sie bei einem „mittleren Hochwasser“ hat.

Dominik Lange sitzt im bergischen Ort Lindlar mit seiner Familie und Schwiegereltern beim Kaffeetrinken. Er bekommt eine SMS auf sein Handy: Die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft ruft ihn zum Einsatz.

Lange ist Notfallsanitäter, aber auch ehrenamtlicher Mitarbeiter des DLRG Ortsverbandes und ausgebildeter Strömungsretter – ein Spezialist um Menschen aus fließenden Gewässern zu bergen.

16.40 Uhr – Pegel der Wupper: 287 cm

Der gefallene Regen hat den Weg von DLRG-Retter Lange zum Stützpunkt erschwert. Erst nach einigen Umwegen kann er zu Kolleginnen und Kollegen aus dem Rheinisch-Bergischen-Kreis stoßen. Er zieht sich seine Kluft an: Neopren-Anzug, Handschuhe, Schwimmweste, Wildwasserhelm. Danach rücken alle gemeinsam als Trupp aus.
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17.15 Uhr

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Am frühen Abend macht Lars Dulies, Hausmeister der LVR-Paul-Klee-Schule in Leichlingen, einen letzten Kontrollgang über das Gelände. Obwohl es bereits stark regnet, ist er zu diesem Zeitpunkt noch entspannt. In Klassenräume oder Keller ist noch kein Wasser eingedrungen. „Alles war trocken”, erinnert er sich. Deshalb macht Dulies an diesem Abend ganz regulär Feierabend und fährt nach Hause.


17.30 Uhr – Pegel der Wupper: 296 cm

Andreas Neumann, Mitinhaber des „AS - Der Unverpacktladens“, ist zu Hause und sieht auf Facebook Bilder vom steigenden Pegel der Wupper. „Es könnte was passieren“, denkt er immer wieder.

Er ruft Silke Herrmanns an, seine Lebensgefährtin und andere Hälfte des Ladens. Sie ist im Geschäft in der Marktstraße, das direkt in erster Reihe an der Wupper liegt.

Sie bestätigt, dass der Fluss Hochwasser hat, aber noch deutlich unter Straßenniveau. Und dass Jürgen Heiner, der seit 35 Jahren in dem Haus an der Wupper über dem Unverpacktladen wohnt, gesagt hat: „Dat hät noch immer jot jejange, und wird et diesmal och.“
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18 Uhr

Die Diepentalsperre staut den Murbach
Die Diepentalsperre staut den Murbach
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Der erste Einsatz bringt DLRG-Helfer Dominik Lange zu einem Bauernhof nahe der Ortschaft Witzhelden. Ein kleiner Bach hat den Hof überspült. Die Feuerwehr hat bereits ein paar Schafe vor dem Ertrinken gerettet. Mit einem Schlauchboot bringen Lange und das Team das Bauernpaar zu den Nachbarn in Sicherheit.


Zeitgleich

Krisenstabschef Bergerhoff ist besorgt: Die Diepentalsperre, direkt bei der Stadt, droht zu brechen. Dann würden Wohngebiete überschwemmt. Der Krisenstabsleiter weist die Feuerwehr an, die Menschen dort zu evakuieren.

Die Feuerwehr hat noch genügend Leute zur Verfügung, die jetzt von Haus zu Haus gehen und an allen Türen klingeln. Die Talsperre wird Bergerhoff die ganze Nacht beschäftigen.

Im Krisenstab geht die Arbeit jetzt richtig los. Bergerhoff muss Unterkünfte für evakuierte Bewohner finden, die nicht bei Freunden oder Verwandten unterkommen können. Zwei Busse bringen die Menschen zur Mensa im Schulzentrum. Als die Flut den Campingplatz Vorstblick erreicht, kommen auch Camper in die Notunterkunft. Am Ende sind es 80 Menschen.

Bergerhoff und sein Team schalten eine Notfallnummer frei, um den Notruf der Rettungskräfte zu entlasten.
Die Diepentalsperre staut den Murbach
Die Diepentalsperre staut den Murbach
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19 Uhr

Haus Emmaus im Pil­ger­heim Welters­bach zur Eröffnung Anfang 2021.
Haus Emmaus im Pil­ger­heim Welters­bach zur Eröffnung Anfang 2021.
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Vom Bauernhof in Witzhelden fahren die DLRG-Retter in ein zwei Kilometer entferntes Altenheim, das vollzulaufen droht. Bei der Ankunft entdeckt der Trupp ein ertrunkenes Schaf – es ist klar: Die Feuerwehr hatte beim Bauernhof nicht alle Tiere retten können.

Spätestens jetzt zeigt sich die Gefahr der Unwetterlage. Die Lage am Altenheim ist jedoch nicht brenzlich. Die Retter rücken bald wieder ab.


20 Uhr – Pegel der Wupper: 348 cm

Der DLRG-Trupp erreicht Nesselrath, oberhalb der Stadt – und ist ab sofort im Dauereinsatz. Das Wasser steht mehr als einen Meter tief. Lange und seine Kollegen schaffen es nicht, alle Bewohner zu überzeugen, ihre Häuser zu verlassen.

Sie ziehen einen verzweifelten Mann aus brusttiefem Wasser. Weiter geht es zu Autos, auf deren Dächern Menschen ausharren, überrascht von der Naturgewalt. Lange birgt einige Personen von Hausdächern, ebenso hilflose Personen am Campingplatz Vorstblick.
Haus Emmaus im Pil­ger­heim Welters­bach zur Eröffnung Anfang 2021.
Haus Emmaus im Pil­ger­heim Welters­bach zur Eröffnung Anfang 2021.
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21:30 Uhr

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Andrea Wüstefeld war schon vom „Grill-Meister“ nach Hause gefahren. Doch dann springt sie wieder mit ihrem Lebensgefährten Ralf Marczinski ins Auto. Ihre Mitarbeiterin hat angerufen, es stehe Wasser im Keller des Schnellrestaurants. Schon jetzt müssen die beiden große Umwege fahren, um in die Stadt zu kommen. Viele Straßen sind überschwemmt oder gesperrt.

Der Grill-Meister liegt direkt neben der Marly-Brücke – noch ist sie befahrbar. Die Wupper steht aber schon ziemlich hoch. Das beunruhigt Wüstefeld.

Der Keller ist aber schnell leergepumpt. Später beschließen beide, den Laden früher zu schließen.
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21:30 Uhr

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Das Technische Hilfswerk (THW) prüft die Diepentalsperre. Die Experten schätzen sie stabil ein. Krisenstabsleiter Bergerhoff ist beruhigt und schreibt dem Bürgermeister, dass alles unter Kontrolle sei. Immer wieder kommen Dammfachleute des THW und schauen sich die Situation vor Ort an.
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21.45 Uhr

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Die Einsatzkräfte holen weiter Menschen aus Häusern und bringen sie in der Mensa des Gymnasiums in Sicherheit.

Bürgermeister Frank Steffes erreichen in Titisee-Neustadt Bilder, die ihn richtig panisch machen. Die Siedlung Büscherhöfen und die Paul-Klee-Schule stehen bereits unter Wasser. Er schreibt Bergerhoff, dass er heute aber nicht mehr von Titisee-Neustadt nach Leichlingen kommen könne. Bergerhoff antwortet aus der Heimat, er habe alles unter Kontrolle.

Gegen 21:45 Uhr erhält Steffes ein Video, das zeigt, wie Wasser aus der Diepentalsperre schießt. Ein anderer Leichlinger whatsappt ihm, dass das Rathaus vollgelaufen sei.



22:00 Uhr – Pegel der Wupper: 397 cm

Der Hausmeister der Paul-Klee Schule, Lars Dulies, ist mittlerweile zu Hause in Wuppertal angekommen, als ihn ein besorgter Lehrer anruft. Eine Anwohnerin habe wegen der Überflutung des Schulhofes Alarm geschlagen. „Da habe ich zuhause alles stehen und liegen gelassen und bin in Rekordzeit nach Leichlingen gefahren”, sagt Dulies.

Als er beim Lidl-Parkplatz oberhalb der Schule ankommt hat das Wasser bereits die Kassenbänder des Supermarkt geflutet. „Da wusste ich, dass wir verloren sind”, sagt Dulies. Die Schule liegt etwa einen Meter tiefer als der Supermarkt. Für Dulies ist es bereits unmöglich das Schulgebäude zu erreichen.

Dulies stellt sein Auto ab und läuft bis zur Wupperbrücke in nächster Nähe der Schule. Die Wupper steht bis zur Deichkrone. Gemeinsam mit der Schulleiterin beobachtet er von der Brücke aus eine knappe Stunde die sich anbahnende Katastrophe.
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22 Uhr

Maggy Richter-Frost, Inhaberin des Blumenladens, fährt von ihrem Haus auf der anderen Seite der Wupper zurück zum Blumenpavillon am Stadtpark. Sie will prüfen, ob die Sandsäcke, die sie am Morgen platziert hatte, noch richtig liegen.
Sie muss die Innenstadt schnell wieder verlassen – die Wupperbrücke steht davor zu überschwemmen.

Auf der Fahrt bekommt Maggy Richter-Frost zittrige Knie. Das Wasser steht nur wenige Zentimeter unter der Brücke. Sie beobachtet erschrocken, dass Eltern mit kleinen Kindern noch auf der Brücke stehen.


22:50 Uhr – Pegel der Wupper 413 cm

Ingolf Bergerhoff sitzt seit Stunden mit dem Krisenstab in der Feuerwache. Langsam hört es auf zu regnen und Hoffnung macht sich breit, dass sie mit einem „blauen Auge“ davongekommen sein könnten.

Wieder einmal klingelt sein Telefon. Der Wupperverband informiert, dass die große Wuppertalsperre nicht noch mehr Wasser aufnehmen kann – ein Teil müsse abgelassen werden, um den Druck zu verringern. In zwei bis drei Stunden werde deswegen eine Flutwelle auf die Stadt treffen.

Bergerhoff schaut auf die Hochwasserkarte. Der Wasserstand ist zu diesem Zeitpunkt ziemlich hoch, aber die wenigsten Stadtteile sind überschwemmt. Die Brücken sind nicht von Wasser bedeckt.

Doch die Hochwasserkarte zeigt, dass sich das mit der Flutwelle in den nächsten Stunden rasant ändern wird: Alles, was direkt an der Wupper liegt, ist jetzt nicht mehr sicher.

Es muss schnell gehen: Die Feuerwehr fährt mit Sirene am Wupperufer entlang, aus Lautsprechern kommt immer wieder die Ansage, sofort das Haus zu verlassen oder mindestens in den ersten Stock zu gehen.

Von Zuhause ruft Bergerhoffs Frau an. Der Keller seiner Schwiegermutter laufe gerade voll, sie bittet ihn nach Hause zukommen. Seine Antwort: „Tut mir leid, das geht gerade nicht. Bei mir läuft gerade die Stadt voll.“
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22.55 Uhr

Marly-Le-Roi-Brücke gegen 23 Uhr
Marly-Le-Roi-Brücke gegen 23 Uhr
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Jens Weber, stellvertretender Vorsitzender des Presbyteriums der evangelischen Kirche in Leichlingen, steht noch auf der Marly-Le-Roi Brücke. Von dort kann er die evangelische Kirche sehen. Sie steht nur wenige hundert Meter weiter flussaufwärts direkt an der Wupper.

Das Wasser steht zu diesem Zeitpunkt auf der Höhe einer Mauer, die die steile Böschung von dem Kirchengelände trennt. Hinter der Mauer liegt die Wohnung des Küsters im Gemeindehaus.

Dem Presbyter ist klar, dass das Wasser für Kirche und Gemeindehaus zur Gefahr wird. Von einem anderen Gemeindemitarbeiter weiß er, dass der Sohn des Küsters noch in der Wohnung ist.

Weber rennt zur Haustür und klingelt Sturm. Der Junge schläft wohl bereits.

Wie lange Weber vor der Tür warten muss, weiß er später nicht mehr. Doch schließlich kommt der Junge zur Tür. Wenig später übersteigt die Wupper die schützende Mauer.

Im Keller des Gemeindehauses lagern viele Musikinstrumente und Weber beschließt zu retten, was zu retten ist. Anfangs beginnt er, Trompeten und Keyboards auf Tische zu stellen. Er merkt schnell, dass das nicht lange reichen wird.

Dann zerspringen die Kellerfenster, sie halten dem Wasserdruck nicht mehr stand. Der Putz an den Wänden bricht auf und an den aufgeplatzten Stellen dringt noch mehr Wasser ein. Weber rettet ein E-Piano, Trompeten und Keyboards. Die anderen Instrumente verschlingt das Wasser.
Marly-Le-Roi-Brücke gegen 23 Uhr
Marly-Le-Roi-Brücke gegen 23 Uhr
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Ingolf Bergerhoff, Leiter des Krisentabs

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Gegen 23 Uhr geht das Transformatorhäuschen im Garten der Paul-Klee-Schule mit großem Knall in die Luft. „Als der Notstrom dann nach wenigen Minuten direkt wieder ausging, wusste ich, dass jetzt auch die Batterieräume überflutet sind”, so Hausmeister Dullies. Er weiß, dass er nichts ausrichten kann. Er fährt zurück nach Wuppertal, wo er die Nacht verbringt.


Zeitgleich

Der Inhaber des Sportgeschäfts Wolfgang Richter dreht eine Runde durch die Leichlinger Innenstadt. Er sieht, wie das Wasser Baumstämme gegen die Mauern der Funchal-Brücke prallen lässt. Kurz darauf wird sie von der Stadt gesperrt.

Trotzdem ist der Sportler und Händler unbesorgt. es regnet ja nicht mehr. Bei seinem Spaziergang sieht er am Marktplatz, wie die Tiefgarage des Sanitärhandels von Peter Graichen im Brückerfeld vollläuft.

Wieder auf der Funchal-Brücke trifft er auf Stadtratsmitglied Maurice Winter und seine Lebensgefährtin. Alle drei sind entspannt und schauen fasziniert der Wupper zu. Noch ist die Brücke trocken. Doch Wohnmobile treiben auf dem Wasser und werden von Brückenpfeilern in kleinere Stücke gerissen. Es sind die Überreste eines viele Kilometer flussaufwärts gelegenen Camping-Platzes.


Zeitgleich

Silke Hermanns stellt in ihrem Unverpacktladen den Staubsauger auf die Heizung. Sie packt sich noch ein paar Filztaschen, die teuersten Produkte in ihrem Laden, und füllt sie mit Getränkeflaschen. Keine 24 Stunden später werden die Getränke an durstige Helfer verteilt. Andreas legt noch Säcke vor Türen und Fenster.

Inzwischen parkt Silke das Auto um: Die Wupper ist vor wenigen Minuten über die Mauer getreten und das Wasser nähert sich ihr und dem Wagen. Sie gerät in Panik, findet ihren Autoschlüssel nicht und wird hektisch. Sie sagt, sie habe sich wie in einem Katastrophenfilm gefühlt. Gerade rechtzeitig schafft sie, das Auto in Gang zu setzen. Sie steht weiter unter Adrenalin.

Die beiden entscheiden, nach Hause zu fahren. Die Situation wird zu gefährlich.

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Am 15. Juli wird kein Regen fallen. Die größte Welle der Wupper steht dennoch erst in den nächsten Stunden bevor.

Satellitenauswertungen und Wetterdaten belegen: Es hat in der gesamten Region zwischen 130 und 162 Liter pro Quadratmeter in zwei Tagen geregnet.

Ein zuvor unvorstellbarer Wert. 
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Die Nacht 14./15. Juli

15. Juli 2021, 0.15 Uhr

Die Brücke gegen 23 Uhr, knapp vor der Überflutung
Die Brücke gegen 23 Uhr, knapp vor der Überflutung
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Die Welle, die das Öffnen der Wuppertalsperre ausgelöst hat, beginnt Leichlingen zu erreichen. Die Brücken werden jetzt vollständig überflutet.

Die Pflastersteine der Bogenbrücke werden weggeschwemmt und Treibgut reißt an der Brücke befestigte Stromleitungen weg. DLRG-Retter Lange muss zwei Männer von einer Wupperbrücke retten. Sie wollten sich „das Ganze nur mal aus der Nähe ansehen“.

1.00 Uhr – Pegel der Wupper: 429 cm

Das Wasser ist jetzt fast im Sportgeschäft von Wolfgang Richter. Er beobachtet, wie der Pegel steigt – über die erste Treppenstufe, die zweite. Richter legt notdürftig zwei Plastikschalen mit Steinen vor die Tür. Es bringt nichts, das Wasser quillt unter der Ladentür durch. Ute Richter schläft, während Wolfgang Richter zuschauen muss, wie Leichlingen versinkt.


Zeitgleich

Der Strom im Rathaus muss abgeschaltet werden und damit ist auch die zusätzlich eingerichtete Notfallnummer nicht mehr zu erreichen.


Auch der Mobilfunkmast, der auf dem Dach des Gebäudes steht, hat keinen Strom mehr. Tausende Bewohner haben jetzt keinen Handyempfang mehr. Der Pegel klettert weiter: Seit 22 Uhr ist er um 30 Zentimeter gestiegen. Er klettert weiter.
Die Brücke gegen 23 Uhr, knapp vor der Überflutung
Die Brücke gegen 23 Uhr, knapp vor der Überflutung
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Kurz nach 1 Uhr nachts

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Viele Leichlinger haben sich bei den Rettungsdiensten gemeldet – sie erreichen nach Stromausfall und Handynetz-Abbruch ihre Angehörigen im überschwemmten Gebiet nicht. Die Feuerwehr gibt Informationen an den DLRG-Trupp weiter. „Schaut nach lost contacts“, wie verschollene Personen genannt werden.

Dominik Lange und das Team haben das Schlauchboot gegen ein Boot mit Motor getauscht, zu tief steht das Wasser jetzt in der Innenstadt. Mit Gewalt bricht Lange Türen und Fenster auf und sucht in Häusern nach Vermissten.
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3 Uhr

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Die Stadt ist schwarz. Die Straßenbeleuchtung ist auch ausgefallen.

Dominik Lange fährt durch die gespenstische Dunkelheit. Vom Boot hört er Hilferufe in einem nahegelegenen Haus an der Neukirchener Straße.

In der zweiten Etage sehen seine Kameraden und er den Schein von Taschenlampen. Sie machen das Boot am Bushaltestellen-Schild „Alte Holzer Straße“ fest und springen ins Wasser.

Die Brühe steht Ihnen bis zum Hals. Jedes Jahr trainiert Lange im Österreich-Urlaub das Schwimmen in stark strömenden Gewässern. Heute gibt ihm das besondere Sicherheit.
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„Das war eine sehr merkwürdige und skurile Situation. Licht war sehr wenig vorhanden in der Nacht.

Wir auf dem Boot hatten drei Taschenlampen zur Verfügung, jeder eine.

Dementsprechend war das eine sehr unwirkliche Situation.“

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„Wir schwammen um das Haus, da der Eingang auf der Rückseite lag und riefen, dass uns jemand öffnen solle. Eine Frau antwortete, dass sie zur Haustür komme.

Im Schein meiner Lampe bemerkte ich, dass so etwas wie Trockeneisnebel aus dem Türspalt waberte und direkt verflog. Auch hörte ich ein seltsames Brummen. Das war merkwürdig, denn der Strom war ja abgestellt

Die Frau öffnete die Türe und ich trat einen Schritt in den Hausflur. Dort sah ich, wie ein medizinischer Sauerstofftank im Wasser trieb und seinen Inhalt abblies.

In der gesamten Wohnung lag ein Sauerstoffnebel über der Wasserfläche, gepaart mit dem bestialischen Gestank von ausgelaufenem Heizöl. Neben mir stand eine ältere Dame. Sie hatte mir die Türe geöffnet.

Eine weitere Frau stand auf dem Treppenabsatz zum ersten Obergeschoss. Ich forderte beide Damen auf, mit uns das Haus zu verlassen. Sie entgegneten, dass wir noch den Mann aus dem zweiten Stock holen müssen.

Mit dem Bewusstsein wie brandgefährlich die Situation war, wiederholte ich meine Aufforderung und sagte, wir würden erst sie in Sicherheit bringen und dann ihren kranken Mann holen. Dem stimmte sie zu und wollte gerade die Treppe zu uns hinunterkommen.

Die Frau auf der Treppe sah mich an und sagte, hinter mir würde es anfangen zu brennen. Ich drehte mich um und sah wie ein heller Funke aufs Wasser viel. Ich griff mir die Dame, die uns die Tür geöffnet hatte, zog sie mit mir vor die Haustür.“
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„Die Haustür haben wir geschlossen und sind in den Vorgarten und in dem Moment, als die Haustür geschlossen wurde, gab es eine richtig starke Durchzündung.

Die Fenster im Untergeschoss sind rausgeflogen. Es war ein doller Knall. Man hat nur noch hellen Feuerschein wahrgenommen."

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„Mir war für den Moment eigentlich ziemlich klar, dass wir ihr nicht mehr helfen konnten und wir da zuhören müssen, wie sie stirbt.

Das war ein unbeschreblicher Moment, bedrückend ist gar kein Ausdruck.“

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„Auf Hilfe brauchten wir nicht warten. Wir waren zu diesem Zeitpunkt die einzigen, die das Haus erreichen konnten.

Im kompletten Untergeschoss ‚brannte‘ das Wasser. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Geistesgegenwärtig rief mein Kollege der Frau zu, sie solle auf den Balkon gehen. Ich hätte nie erwartet, dass sie das schafft.

Doch einen Moment später sahen wir sie an einem Fenster zum Balkon. Mein Kollege kletterte über ein Rankgitter hinauf und ich folgte ihm. Unser dritter Mann blieb bei der unverletzten Frau im Vorgarten.

Auf dem Balkon sahen wir, wie schwer verbrannt die alte Dame war. Sie war von Kopf bis Fuß verrußt.Wir zogen sie aus dem Fenster, da sie das aus eigener Kraft nicht schaffte. Dann stiegen wir mit Ihr über das Balkongeländer und sprangen gemeinsam ins Hochwasser. Wie ließen sie nicht mehr los.“
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„Da gab es noch eine sehr unwirkliche Situation, die in einer Form auch witzig ist.

Die Dame war sehr gefasst in dem Moment. Sie hat zu mir gesagt. 'Jetzt bin ich nicht verbrannt, jetzt brech ich mir dat Genick, wenn ich vom Balkon springe.'

Ich bin dann mit der Dame zusammen nach unten gesprungen.“

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„Gemeinsam schwammen wir vorbei am brennenden Haus zu unserem Boot. In diesem Moment wussten wir alle, dass wir ihren Mann in den Flammen verloren hatten.

Es war ein unglaublicher Kraftakt, beide Frauen aus dem strömenden Hochwasser ins Boot zu hieven. Wir fuhren so schnell es ging an Land, versorgten die verbrannte Frau. Wenig später traf ein Rettungswagen ein.“
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„Uns war klar in dem Moment, dass wir dem Mann aus dem Obergeschoss nicht mehr helfen konnten.

Ich bin persönlich zum Schluss gekommen, dass wir nichts hätten ändern können.´

Wir hatten großes Glück an dem Abend, dass wir selbst nicht betroffen waren.

Es ist ein prägendes Erlebnis.“

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4 Uhr

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Ingolf Bergerhoff und seine Kollegin vom Ordnungsamt sitzen immer noch im Feuerwehrhaus. Sie beschließen, die erste Pause der Nacht einzulegen.

Bergerhoff selbst nutzt die Zeit, um in sein Haus nach Köln zu fahren, zu duschen, etwas zu essen und ein wenig zu entspannen. Aber an Schlaf ist nicht zu denken. Immer wieder wird er aus der Stadt angerufen und muss Entscheidungen per Telefon treffen.

Der Krisenstab nimmt mehrere Stadtteile vom Stromnetz, unter anderem Brückerfeld und den Marktplatz.
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4.45 Uhr

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Der Wasserstand der Wupper erreicht bei 4,55 Meter seinen Höchststand – das sind fast zwei Meter mehr als bei einem „mittleren Hochwasser“ (2,70 Meter).


5 Uhr – Pegel der Wupper: 453 cm

Dominik Lange ist seit 13 Stunden im Einsatz. Der DLRG-Trupp hat das eigene Boot mittlerweile mit einer Pumpe der Feuerwehr ausgerüstet. Bis in die Morgenstunden schützen sie das Nachbarhaus vor einem Übergreifen des Feuers. Andere Rettungskräfte haben in der Zwischenzeit eine junge Familie mit Kleinkind und ein älteres Ehepaar aus den angrenzenden Häusern evakuiert.
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Ein Planungsbüro hat die Flut zu Ihrem Höhepunkt rekonstruiert. Bis zu 1,7 Meter tief stand das Wasser in den Straßen.
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Der 15. Juli 2021







Die Marly-le-Roi-Brücke im Stadtzentrum hat der Flut geradeso getrotzt.
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7:30 Uhr

Matthias Winzer, Schloss Eicherhof
Matthias Winzer, Schloss Eicherhof
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Hausmeister Dulies ist pünktlich zum regulären Dienstbeginn wieder in Leichlingen. Doch noch immer kann er das Gelände der Schule nicht betreten – die Strömung auf dem Schulhof ist lebensgefährlich. „Zu der Zeit war kompletter Ausnahmezustand”, erinnert sich Dulies. Ihm bleibt nichts anderes übrig als abzuwarten.

Er setzt sich in die Bushaltestelle oberhalb der Schule und harrt dort mehrere Stunden aus. „Als ich dort saß, habe ich mich mental darauf vorbereitet, was jetzt die nächsten Wochen und Monate auf mich zukommt.”

8:30 Uhr – Pegel der Wupper: 439 cm

Die Nachrichten aus Leichlingen haben über die Nacht auch Manfred Ackermann und Matthias Winzer erreicht. Das Paar betreibt in Leichlingen das Schloss Eicherhof, wo Hochzeiten und andere Feste gefeiert werden. Sie fahren aus Solingen nach Leichlingen und erwarten das Schlimmste.

Ihre Befürchtungen bestätigen sich, als sie in der Stadt einfahren. Autos stehen quer auf den schmutzigen Straßen.

Gullideckel und das, was diese unter sich verbergen sollten, sind überall verteilt. Für Matthias Winzer ist es „die schlimmste Fahrt seines Lebens“.

Schloss Eicherhof liegt an der Straße Am Hammer, die völlig überschwemmt ist. Das Betreiberpaar bahnt sich den Weg zum Schloss. Dort trifft es sie völlig anders, als sie es erwarteten. Es ist kein Schaden zu sehen. Um das traumhafte Bild des Schlosses zu vollenden, fehlten bloß einige Sonnenstrahlen und singende Vögel, denkt Winzer in diesem Moment.

Als sie ins Schloss treten, finden sie erst im Keller Anzeichen dafür, dass sich in der Nacht eine der schlimmsten Wetterkatastrophen der vergangenen Jahrhunderte zutrug. Der Keller ist vollgelaufen, was sie bei dem über 200 Jahre alten Gebäude wenig verwundert.

Im Garten hinter dem Schloss stehen gut fünf Zentimeter Wasser, mehr ist nicht zu sehen. Winzers fühlt gleichzeitig Erleichterung darüber und Scham dafür, dass es sie nicht so hart getroffen hat, wie viele andere.
Matthias Winzer, Schloss Eicherhof
Matthias Winzer, Schloss Eicherhof
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9.00 Uhr

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Wolfgang Richter, der Inhaber des Sportgeschäfts, will an diesem Morgen ebenfalls an seinen Arbeitsplatz. Aus dem Laden ist das Wasser bereits abgeflossen. Aber fünf bis zehn Zentimeter Schlamm bedecken die 300 Quadratmeter Verkaufsfläche.

An den Wänden sieht Richter, dass das Wasser bis zu dreißig Zentimeter hoch im Laden gestanden haben muss. Vierzig waren es draußen.

Richter holt Wasserschieber, Besen und Eimer von zu Hause. Seine Tochter, seine Ex-Frau, seine Mitarbeiterin und Freunde kommen ihm zuhilfe. Den ganzen Tag schieben und kehren sie Schlamm aus dem Laden.

Zeitgleich

Bürgermeister Frank Steffes sitzt auf dem Motorrad. Er macht sich auf den Weg aus dem Schwarzwald nach Leichlingen.

Steffes telefoniert während der Fahrt mit einem Headset unter dem Helm. So gibt er auch dem WDR ein Interview. Die Sonne scheint, nur einmal erwischt ihn ein kleiner Schauer. „Ich habe mich gefühlt, als würde ich in einer Parallelwelt leben. Nichts war mehr normal“, sagt Steffes.

10 Uhr – Pegelstand der Wupper: 430 cm

Kristenstableiter Bergerhoff beschließt, von der Feuerwache in die Stadt zu fahren und sich die Lage im überfluteten Rathaus anzuschauen. Die Lage vor Ort empfindet er als katastrophal und unvorstellbar. Ein paar Menschen sind mit Booten unterwegs zu ihren Häusern, die an der Wupper liegen.

Ihm wird bewusst, dass die Krise nicht in ein paar Tagen vorüber sein wird. Sie wird ihn, sein Team und die Stadt lange beschäftigen wird.

Die Feuerwehr und andere Helfer pumpen so viele Häuser aus, wie möglich. Das wird tagelang so weitergehen. Am Ende spricht die Feuerwehr von etwa 500 Kellern, die sie ausgepumpt hat.

Das große Problem des neuen Tages ist es, die Bevölkerung zu informieren. Da es keinen Strom gibt und die meisten Smartphones kaum mehr Akku haben, muss sich Bergerhoff einen anderen Weg überlegen: Die Feuerwehr formiert einen „Informationszug“ und fährt mit mehreren Lautsprecherwagen durch die Stadt.


Zeitgleich

Dominik Lange ist mittlerweile zu Hause. Das Haus an der Neukirchener Straße brennt noch immer. Ein Polizeihubschrauber ist im Einsatz. Aus dem Freibad holt er mit einem großen Plastikbehälter regelmäßig Wasser und entlässt es über dem Gebäude. Ein 86-jähriger Mann ist dort ums Leben gekommen.

Zwei Frauen konnte Lange mit den beiden DLRG-Kameraden vor dem Feuertod inmitten der Flut retten.
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Andrea Wüstefeld vom Imbiss Grill-Meister watet zu ihrem Lokal
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10.15 Uhr

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Grill-Meisterin Andrea Wüstefeld und ihr Lebensgefährte sind auf dem Weg in die Stadt. Mit dem Auto fahren sie gegen 10:15 Uhr soweit wie möglich an das Restaurant heran. Sie packen die Gummistiefel aus.

Als sie durch die Innenstadt laufen und die überfluteten Geschäfte sehen, ist Wüstefeld klar, dass es auch ihren Laden erwischt haben muss. Das Wasser steht kniehoch in den Straßen. Die Gummistiefel sind längst vollgelaufen.
Als beide im Grill-Meister ankommen, steht das Wasser nicht mehr im Laden, es war aber 1,20 Meter hoch gestiegen.

Überall hat die Flut eine dicke Schlammschicht hinterlassen. Regale stehen nicht mehr an ihrem alten Platz. Tische, Bänke, Stühle sind umgekippt.

Wüstefeld steht unter Schock, Lebensgefährte Ralf Marczinski legt sofort los.

Er ruft einen befreundeten Handwerker an, der am gleichen Tag noch vorbeischaut möchte um zu helfen. Dann stellt Marczinski Tische, Stühle und Bänke zum Trocknen in die Sonne.
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11.00 Uhr

Schloss Eicherhof an einem sonnigen Tag
Schloss Eicherhof an einem sonnigen Tag
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Während unten in der Stadt viele Menschen die Reste ihrer Existenz aufsammeln, müssen die Betreiber von Schloss Eicherhof, Manfred Ackermann und Matthias Winzer, entscheiden, wie sie mit einer für den nächsten Tag geplanten Hochzeit umgehen sollen.

Die Dokumente, die die Standesbeamtinnen für die Trauungen benötigten, liegen bereits im Schloss und nicht im überfluteten Rathaus. Strom gibt es im Schloss seit letzter Nacht nicht mehr.

Aber die Nachbarn haben einen Generator, der dieses Problem beseitigt: Die Hochzeit könnte stattfinden. Doch davor steht die viel größere Frage, ob sie das auch soll.

Von vornherein steht fest, dass keine richtige Entscheidung getroffen werden kann. Es geht um Pietät gegenüber den in der Stadt um ihre Existenz besorgten Menschen und die über Jahre geplanten Eheschließungen, die auch vertraglich vereinbart sind.

Matthias Winzer ist kurz davor, sich eindeutig gegen die Veranstaltungen zu entscheiden. Schließlich entscheidet das Pflichtbewusstsein gegenüber dem Beruf. Kurz nach der Entscheidung rufen Ackermann und Winzer die Hochzeitsgäste an, teilen ihnen mit, dass die Feiern stattfinden werden und bitten sie darum, dezent anzureisen, ohne hupende Autokonvois, aus deren Fenstern Ballons hängen.

Am Tag der Feier werden sich zwei Welten in Leichlingen begegnen. Während im Spiegelsaal des Schlosses gefeiert wird, kommen verdreckte Helfende durch das Gebäude, um so viel Kaffee wie möglich für die Betroffenen im Ort zu besorgen.
Schloss Eicherhof an einem sonnigen Tag
Schloss Eicherhof an einem sonnigen Tag
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12.30 Uhr

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Andreas Neumann begutachtet den Schaden am Unverpacktladen. Die Schaufensterseite des Unverpacktladens ist weg, alles offen und verwüstet.

Eine Frau von gegenüber berichtet, dass es gegen drei oder vier Uhr nachts laut geknallt habe. Nur die Regale, die Andreas Neumann fest an eine Wand geschraubt hatte, stehen noch.

Die sicher geglaubte Elektronik, der Staubsauger auf der Heizung, alle Produkte: Sie sind im und um den Laden verteilt. Der Keller ist noch komplett voller Wasser, „da hätte man Taucherausrüstung gebraucht“, sagt der 53-Jährige.

Das Erdgeschoss ist ein Bild aus Schlamm und Verwüstung. 1,20 Meter tief stand das Wasser im Geschäft. Die Wendeltreppe mitten im Laden, die in den Keller führt, hat keinen sichtbaren Anfang und kein Ende mehr. Die ersten Stufen sind bestenfalls zu erahnen.

„Das einzige was in den Trümmern am Donnerstag klar war: Das war nicht alles, wir machen weiter!”, sagt Neumann.

Landwirte aus der Umgebung helfen und schmeißen Güllepumpen an, um das Restaurant auszupumpen. Den Tag über kommen weitere Helferinnen und Helfer. Jugendliche, die von Donnerstag und über das Wochenende hinaus mitgeholfen haben und „morgens einfach vor der Tür standen“.


14.00 Uhr – Pegel der Wupper: 410 cm

Die Strömung auf dem Schulgelände der Paul-Klee Schule hat jetzt nachgelassen. Hausmeister Dulies kann sich die Zerstörung aus der Nähe ansehen. In Badehose und Sportschuhen wartet er über den Schulhof. Das Wasser steht noch ungefähr 80 Zentimeter hoch.

Er betritt das zerstörte Schulgebäude und dokumentiert alles mit seinem Handy.

„Ich war schon sehr vorsichtig und habe mich Schritt für Schritt durch die braune Brühe bewegt, weil ich auch kein Risiko eingehen wollte”, sagt der Hausmeister. „Das ganze Gebäude sah aus wie nach einem Bombenangriff - alles war durcheinander und umgestürzt.“
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16.00 Uhr

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Beim „Grill-Meister“ von Andrea Wüstefeld erscheint am Nachmittag gegen 16:00 Uhr hoher Besuch. FDP-Chef Christian Lindner kommt in den Laden und schaut sich um. Er ist in Leichlingen, um seinen Wahlkreis und seine Schwiegereltern zu besuchen.

Bürgermeister Steffes sieht Wüstefeld während der Aufräumarbeiten nicht. „Ich hätte mich gefreut, wenn auch er mal vorbeigekommen wäre”, sagt sie.

18.00 Uhr – Pegel der Wupper: 392 cm

Am frühen Abend kommt Bürgermeister Steffes aus dem Urlaub zu Hause an und fährt zum Krisenstab in der Feuerwache. Steffes und die Leiterin des Ordnungsamtes, Karin Barkowski, fahren sofort mit einem kleinen Einsatzwagen in die Stadt.

Das Wasser hat sich zurückgezogen, die Straßen sind wieder trocken. Auf dem Lidl-Parkplatz liegen tote Fische.Überall laufen Pumpen. Steffes kommt an dem Haus in der Neukirchener Straße vorbei, das in der Nacht abgebrannt ist.

Noch sieht er zu diesem Zeitpunkt nicht, wie dramatisch die Lage ist, sagt er heute. Auf den Straßen türmt sich der Sperrmüll erst ist in den folgenden Tagen.
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18.30 Uhr

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Während der Bürgermeister das Chaos in der Stadt begutachtet, fährt Maggy Richter-Frost mit dem Fahrrad zu ihrem Blumenpavillon. Sie bekommt zunächst die Tür nicht auf, weil sie von Möbeln und ihrer gesamten Ware versperrt wird. Das Bild, das sich ihr bietet: Alle Möbel sind wild verstreut, nichts ist mehr an Ort und Stelle und von Schlamm überzogen. Kein Teil ist mehr brauchbar.


„Im ersten Moment denkt man, das war’s jetzt mit deiner Existenz. Wo will man weitermachen? Das geht einfach nicht. Dass man alles wieder aufbauen könnte, habe ich in dem Moment nicht gedacht“.


Der Keller war durch die Außenschächte vollgelaufen und das Wasser im Laden hatte das Mobiliar um etwa 1,20 Meter angehoben. Die Unterkellerung ist Glück im Unglück. Ohne ihn hätte das Wasser wahrscheinlich so stark auf die Fensterscheiben gedrückt, dass sie zerbrochen und der ganze Glaspavillon eingestürzt wäre.
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„Es ist etwas aus der Nacht übrig geblieben. Das Seil haben wir hier an der Laterne befestigt, um unser Boot in der Strömung zu halten.

Der Druck des Wassers war so stark, dass wir den Knoten nicht mehr lösen konnten und das Seil kappen mussten.

Sehr eindrücklich, wie hoch das Seil hängt. Das war mir selbst so gar nicht bewusst.“

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Epilog

Leichlingen, im Juli 2022

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Im Stadtgebiet Leichlingen sind am 13. und 14. Juli 2021 geschätzt 5,5 Milliarden Liter Wasser vom Himmel gefallen.


Noch schlimmer war, dass die Wupper eine schmutzige braune Brühe mit sich brachte. Sie verwandelte die Ufer von Nesselrath bis Balken in eine schlammige Seenlandschaft, in der Straßen und Siedlungen, Rathaus, Sporthallen und Aula, Parks, Schulen, Campingplatz, Bürgerhaus und Hallenbad untergingen.


Mehr als 1000 Haushalte waren direkt von der Flut betroffen, viele Häuser und Wohnungen wurden völlig zerstört. Das Unglückshaus an der Neukirchener Straße wurde bald nach dem Brand abgerissen.
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Nach dem großen Aufräumen türmten sich 25.000 Kubikmeter Sperrmüll, Bauschutt und Elektroschrott auf einer provisorischen Lagerhalde am Sportplatz. Die Schäden allein an Gebäuden und Infrastruktur der Stadt belaufen sich auf 22 Millionen Euro.

Hinzu kommen Kosten für den Neubau der Paul-Klee-Förderschule, die an anderem Ort neugebaut werden wird, das Jugendzentrum, das Sportlerheim und die Niederlassung der Kreissparkasse, die mit Tresorraum und Kundenhalle abgesoffen ist.


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Leichlingen hat 17,4 Millionen Euro aus dem 30-Milliarden-Fluthilfefonds von Bund und Land erhalten. 9,5 Millionen Euro davon gab es für die Bergung, Konservierung, Gefriertrocknung, Einlagerung und Restaurierung des Stadtarchivs, das im Keller des Rathauses versunken ist.


Vier Millionen Euro werden die überall noch laufenden Gebäudesanierungen kosten, 3,5 Millionen die Reparatur zerstörter Straßen, Wege und Brücken. Die Notfallpläne für den Katastrophenschutz müssen neu geschrieben werden.


Der Klimawandel hat eine neue Ära eingeleitet. Der Wupperverband reguliert den Talsperren-Pegel im Sommer vorsichtiger. Deichbau ist wieder ein Thema. Die Stadt hat reagiert: Ein neuer Bebauungsplan namens „Hochwassergebiet Wupper“ soll Vorkehrungen gegen Flutschäden zur Auflage machen.


Die Baupläne für die Henley-Brücke und die Sporthalle in der Balker Aue sind schon geändert worden: Sie werden höher gelegt, damit sie vor Wupper und Starkregen mehr in Sicherheit sind.


Die Warnsysteme für die Bevölkerungsinformation werden verbessert. Das Pilotprojekt einer „Blau-Grünen Klimaachse“ sieht den Einbau großer unterirdischer Tanks, Versickerungsflächen und ein grachtenähnliches Netz aus offenen Rinnen vor. Sie sollen Starkregen abpuffern und das Kanalsystem entlasten.

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Text Epilog: Hans-Günter Borowski
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Leichlingen und das Wasser

Die Wupper fließt durch die Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. 
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Das vom Land ausgewiesene Überschwemmungsgebiet umfasst das unmittelbare Flussufer.

Die bislang größte Überschwemmung gab es ganz ohne Hochwasser.

Heftiger Regen überflutete 2018 die Innenstadt. Doch es war nur vermeintlich die „Sturzflut des Jahrhunderts“.
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Im Juli 2022 sollte es schlimmer kommen.

Gleichzeitig erfassen Starkregen und Hochwasser Leichlingen.
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Vorher/Nacher Ansicht

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Ein Planungsbüro hat den Höhepunkt der Überschwemmung dokumentiert 
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2018 hatte starker Regenfall bereits gezeigt, dass die Innenstadt bei Starkregen anfällig für Überschwemmungen ist. 

Die Tallage der Stadt erweist sich dann als Manko.

Bei der großen Flut 2021 kam zu 165 Litern pro Quadratmeter - gefallen am 13. und 14. Juli - dann noch das enorme Hochwasser der Wupper, in deren Einzugsgebiet es ebenfalls extrem viel geregnet hatte.

Etwa ein Drittel der Wupper-Wassermenge speist sich aus einer Talsperre viele Kilometer flussaufwärts, der Rest aus den restlichen Gebieten aus denen sich Wasser seinen Weg in den Fluss bahnt.
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Als die Wupper-Talsperre das Regenwasser am späten Abend des 14. Juli 2021 nicht mehr fassen konnte, floss deutlich mehr Wasser aus der Talsperre in den Fluss.

In der Folge verschlimmerte sich die Lage in Leichlingen. Das Wasser stieg über die Grenzen des Trogs, durch den die Wupper in der Stadtmitte fließt.

Ganze Straßenzüge standen schließlich bis zu 1,50 Meter tief unter Wasser.
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Die Menschen

Andrea Wüstefeld

Chefin des „Grill-Meister“

Lars Dulies

LVR-Paul-Klee-Schule

Bürgermeister Frank Steffes

Zuerst in Urlaub, dann in der Stadt

Ingolf Bergerhoff

Krisenstab in der Feuerwache

Wolfgang Richter

Sportladen

Silke Herrmanns, Andreas Neumann

Unverpackt-Laden

Jens Weber

Presbyter der Evangelischen Kirche

Dominik Lange,

DLRG-Retter beim Feuer in der Neukirchener Straße

Maggy Richter-Frost

Blumenladen

Matthias Winzer

Schloss Eicherhof

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Andrea Wüstefeld, Grill-Meister

14. Juli 2021

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14.30 Uhr

Andrea Wüstefeld und ihr Team atmen durch, der Ansturm der Mittagszeit ist gerade vorbei. Mittwochs ist Markt in Leichlingen, dann ist es immer besonders voll im Grill-Meister, den Wüstefeld vor 32 Jahren von ihrem Vater übernommen hat. Dort gibt es nicht nur Fast-Food, sondern auch Pasta, Pizza, Schnitzel und Fisch. Zum ersten Mal fällt der 54-Jährigen auf, dass die Wupper ziemlich hoch ist und sehr schnell fließt. Doch in den nächsten Stunden wird sie erstmal keine Zeit haben, das Hochwasser im Auge zu behalten.

 15 Uhr

Andrea Wüstefeld sitzt an einem Tisch im Grill-Meister und spricht mit einem ihrer Mitarbeiter, als sie einen lauten Knall hört. Ein Auto ist mit hohem Tempo rückwärts in eine Scheibe des Ladens gefahren. Wo jetzt das Unfallauto steht, waren Sekunden vorher noch Tische und Stühle. Weil es den ganzen Tag schon regnet, hatte sich niemand nach draußen gesetzt. Zum Glück. Wüstefeld ist sicher: „Hätte da jemand gesessen, wäre er gestorben.“ Für die nächsten zwei Stunden ist an Flut und Hochwasser nicht zu denken. Wüstefeld ruft die Polizei, versorgt den älteren Fahrer, der scheinbar Vorwärts- und Rückwärtsgang verwechselt hatte, räumt die Glasscherben weg. Ihr Lebensgefährte Ralf Marczinski ruft einen Glaser an, der am gleichen Abend noch vorbeikommen soll.


19 Uhr

Andrea Wüstefeld macht Feierabend im Grill-Meister und fährt nach Hause. Der Glaser ist gerade fertig geworden. Die Fensterfront hat er provisorisch mit einer Spanplatte abgeklebt. In Wüstefelds Heimatort Leverkusen-Alkenrath, der 15 Minuten südlich von Leichlingen liegt, läuft schon Wasser über die Straße, überall stehen Feuerwehr und Rettungskräfte. Doch Wüstefeld will zu Hause erstmal abschalten. Ihre Mitarbeiterin soll um 22 Uhr den Laden zumachen.


20.15 Uhr

Keine 90 Minuten nachdem sie zu Hause angekommen ist, sitzt Andrea Wüstefeld zusammen mit ihrem Lebensgefährten Ralf Marczinski schon wieder im Auto auf dem Weg nach Leichlingen. Ihre Mitarbeiterin hat angerufen, es steht Wasser im Keller des Schnellrestaurants. Schon jetzt müssen die beiden große Umwege fahren, um in die Stadt zu kommen. Viele Straßen sind überschwemmt oder gesperrt. Der Grill-Meister liegt direkt neben der Marly-Brücke – noch ist sie befahrbar. Die Wupper steht schon ziemlich hoch, das beunruhigt Wüstefeld. Aber sie muss sich erstmal um den Keller kümmern. Ihr Lebensgefährte Ralf Marczinski, selbst Maler- und Lackierermeister, besorgt kurzfristig eine Pumpe eines Handwerkerkollegen. Das Wasser steht nicht sehr hoch, der Keller ist schnell leergepumpt. Trotzdem bleiben Andrea Wüstefeld und Ralf Marczinski noch im Laden. Zur Vorsicht.


21.15 Uhr

Die Wupper steigt weiter. Andrea Wüstefeld beschließt, dass sie den Grill-Meister heute schon früher zumacht - eigentlich hat das Restaurant täglich von 11 bis 22 Uhr geöffnet. Während sie selbst den Laden putzt und aufräumt, bestellt ihr Mitarbeiter Lebensmittel für den nächsten Tag. „Dass wir keinen nächsten Tag mehr haben würden, war uns nicht bewusst“, sagt die Chefin


23 Uhr

Auch wenn der Laden schon geschlossen ist, bleiben Andrea Wüstefeld und Ralf Marczinski in Leichlingen und beobachten das Hochwasser. Auch alle Mitarbeiter, die am Abend gearbeitet haben, sind noch da. Der Fluss füllt sich immer weiter, Kühlschränke und große Äste treiben am Grill-Meister vorbei. Auf den Straßen ist viel los, die Menschen kommen an die Wupper und schauen sich das Hochwasser an. Von überall hört Wüstefeld neue Nachrichten. Jeder erzählt etwas anderes.


23.40 Uhr

Die Wupper ist mittlerweile so hoch, dass sie über die Marly-Brücke schwappt. Andrea Wüstefeld und ihr Lebensgefährte Ralf Marczinski beschließen, nach Hause zu fahren. „Wir können hier jetzt nichts mehr aufhalten“, sagt Marczinski. Sie müssen nun noch mehr Umleitungen nehmen als auf dem Hinweg. Trotzdem denkt das Paar nicht darüber nach, dass sie den Laden am nächsten Tag nicht wieder öffnen können.
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Andrea Wüstefeld, Grill-Meister






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00.20 Uhr

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Zu Hause gehen Andrea Wüstefeld und Ralf Marczinski direkt ins Bett. Währenddessen steht das Wasser in Leichlingen so hoch, dass es von außen gegen den Ventilator und die Lüftungsschächte im Keller drückt. Der Keller des Grill-Meister füllt sich bis zur Decke. Im Laden steigt das Wasser über Nacht auf 1,20 Meter.

10.15 Uhr

Andrea Wüstefeld und Ralf Marczinski fahren mit dem Auto zum Grill-Meister nach Leichlingen. Eine Mitarbeiterin sollte morgens den Laden aufmachen, doch sie kommt wegen der Flut nicht in die Stadt. Über Umwege erreichen die beiden einen Parkplatz, 15 Gehminuten vom Grill-Meister entfernt. Sie packen die Gummistiefel aus. Als sie durch die Innenstadt laufen und all die überfluteten Geschäfte sehen, ist Wüstefeld klar, dass es auch ihren Laden erwischt haben muss. Das Wasser steht kniehoch in den Straßen, die Gummistiefel sind längst vollgelaufen.

11 Uhr

Andrea Wüstefeld und Ralf Marczinski kommen beim Grill-Meister an. Das Wasser steht nicht mehr im Laden, doch es hat überall eine dicke Schlammschicht hinterlassen. Regale stehen nicht mehr an ihrem alten Platz, Tische, Bänke und Stühle sind umgekippt. Die Spanplatte im Fenster hat der Flut standgehalten. Andrea Wüstefeld steht unter Schock, Lebensgefährte Ralf Marczinski legt sofort los. Er ruft einen Handwerkerkollegen an, der am gleichen Tag noch vorbeischaut und hilft. Dann stellt Marczinski Tische, Stühle und Bänke zum Trocknen in die Sonne.

14 Uhr

Ein Mann bleibt vor dem Grill-Meister stehen und bietet Andrea Wüstefeld und Ralf Marczinski seine Hilfe an. Er ist Pooltechniker und bringt den beiden große Pumpen vorbei, mit denen er noch am gleichen Tag den Keller auspumpt. Zusammen mit seiner Familie hilft er auch in den nächsten Tagen noch bei den Aufräumarbeiten. „Das war ein Geschenk des Himmels“, sagt Wüstefeld.

15 Uhr


Andrea Wüstefeld versucht, den Schlamm im Grill-Meister mit dem ausgepumpten Kellerwasser abzuspülen, weil selbst das noch sauberer ist als die Schlammschicht im Restaurant. Währenddessen kommen immer mehr Mitarbeiter im Laden an, um beim Aufräumen zu helfen. Einer hat Tränen in den Augen, als er das Ausmaß der Flut sieht. Zusammen fangen sie an, Tische, Bänke und Stühle mit einem Schlauch zu abzuspritzen. Sie wissen noch nicht, dass sie viele der Möbel nicht behalten können

16 Uhr

FDP-Chef Christian Lindner kommt im Grill-Meister vorbei und schaut sich um. Er ist in Leichlingen, um seinen Wahlkreis und seine Schwiegereltern zu besuchen. Den Bürgermeister der Stadt sieht Andrea Wüstefeld während der Aufräumarbeiten nicht. „Ich hätte mich gefreut, wenn auch er mal vorbeigekommen wäre.“

20:30 Uhr

Andrea Wüstefeld und Ralf Marczinski fahren nach Hause. Sie kann nur daran denken, was noch gemacht werden muss: „Man will einfach weitermachen und ist voller Adrenalin“, sagt Wüstefeld. Im Kopf geht sie die Aufräumarbeiten für den nächsten Tag durch.
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13 Uhr

Lage direkt an der Brücke über die Wupper: der Grill-Meister.
Lage direkt an der Brücke über die Wupper: der Grill-Meister.
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Ein langjähriger Mitarbeiter von Wüstefeld bringt von zu Hause einen Gasgrill mit. Das Kühlhaus im Grill-Meister ist ausgefallen, und das Essen wird in ein paar Tagen schlecht werden. Also braten Wüstefeld und ihre Kollegen kostenlos Würstchen und Burger für die Helferinnen und Helfer in der Gegend. In den nächsten Tagen kochen sie auch Nudelpfannen, um sie in der Stadt zu verteilen.

16 Uhr

Einer der Helfer, der sich beim Grill-Meister ein Würstchen zur Stärkung holt, trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Elektrotechnik-Köln“. Wüstefeld spricht ihn darauf an und bittet ihn um Hilfe. Eigentlich hat der Handwerker gerade Urlaub, doch am nächsten Tag repariert er die Elektrik im Restaurant



Epilog

Auch in den nächsten Tagen behalten Andrea Wüstefeld und ihr Team die gute Laune, auch wenn sie viel arbeiten. Alle helfen mit und mittags essen sie zusammen, während aus Wüstefelds Auto laut „The Time of Our Life“ aus dem Film „Dirty Dancing“ dröhnt. Schon nach einer Woche kann Wüstefeld ihren Grill-Meister wieder aufmachen: zwar ohne warmes Wasser und ohne Gas, aber die Mitarbeiter des Restaurants finden andere Wege. Statt auf einem Gasherd kocht das Team für eine Weile auf zwei elektronischen Kochfeldern. Andrea Wüstefeld ist sehr dankbar für den Zusammenhalt, den sie in den Tagen nach der Flut erlebt hat. „Da bekomme ich heute noch Gänsehaut, wenn ich das erzähle.“


- aufgezeichnet von Lisa Breuer
Lage direkt an der Brücke über die Wupper: der Grill-Meister.
Lage direkt an der Brücke über die Wupper: der Grill-Meister.
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Silke Herrmanns, Andreas Neumann

14. Juli

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17.30 Uhr

Andreas Neumann, eine Hälfte von “AS - Der Unverpacktladen”, ist zu Hause und sieht auf Facebook Bilder vom steigenden Pegel der Wupper. Silke Herrmanns, Lebensgefährtin und andere Hälfte des Ladens, ist im Geschäft in der Marktstraße, das direkt in erster Reihe an der Wupper liegt. Andreas ist den ganzen Tag schon nervös. „Es könnte was passieren“, denkt er immer wieder. Er ruft Silke im Geschäft an. Sie bestätigt, dass der Fluss Hochwasser hat. Aber auch, dass Jürgen Heiner, der seit 35 Jahren in dem Haus an der Wupper über dem Unverpacktladen wohnt, gesagt hat: „Dat hät noch immer jot jejange, und wird et diesmal och“.
22.15 Uhr

Die benachbarte Schneiderei ruft die Besitzer des Unverpacktladens an. Wasser ist in den gemeinsamen Keller gelaufen. Die Besitzer Silke Hermanns und Andreas Neumann kommen um 22:30 Uhr am Geschäft an. Die Wupper ist noch nicht übergetreten, aber das Grundwasser steht in großen Pfützen in den Kellerräumen. Obwohl die beiden sich noch sicher fühlen, auf ihre Wasserschutzklappen am Hintereingang vertrauen – und auf den Nachbarn, der sagt, dass es so schlimm schon nicht wird, fangen sie an umzuräumen. „Wir haben Sachen hochgestellt, da haben wir uns hinterher gedacht: Was haben wir überhaupt gemacht?“, sagt Hermanns später. Der Staubsauger kam auf die Heizung, Elektronik auf die Theke. Die 54-Jährige nimmt sich ein paar Baumwolltaschen mit Strasssteinen, die das Paar 2019 extra hat anfertigen lassen, und füllt sie mit Bio-Limonade – die Flasche zu 0,33 Liter. Keine 24 Stunden später werden die beiden die Getränke an durstige Helfer:innen verteilen.


23.00 Uhr

Die Lage spitzt sich zu. Andreas Neumann legt Mehlsäcke vor Türen und Fenster seines Unverpacktladens. “Das war das billigste, was wir hatten und wenigstens ein Versuch.” Seine Lebensgefährtin Silke Hermanns versucht derweil, das Auto zu retten. Die Wupper ist vor wenigen Minuten über die Mauer getreten. Sie sieht das Wasser auf sich zukommen, will schnell den Berg hochfahren. Plötzlich findet sie den Autoschlüssel nicht mehr, wird hektisch. „Ich hab' mich gefühlt wie im Katastrophenfilm.“ Sie schafft es rechtzeitig, aber das Rauschen der Wupper geht ihr seitdem nicht mehr aus dem Kopf.


23.30 Uhr

Das Paar trifft sich vor dem Unverpacktladen wieder. Andreas Neumann und Silke Herrmanns hoffen, dass die Mehlsäcke vor Türen und Fenstern reichen. Das Wasser steigt derweil stetig. Die Unverpacktladen Besitzer laufen mit nassen Füßen über die Straße und setzen sich auf die Stufen der gegenüberliegenden Adler Apotheke, rauchen Eine. Doch sie müssen alle paar Minuten eine Stufe höher steigen, stehen beim Runtergehen schließlich knietief im Wasser. Herrmanns und Neumann entscheiden sich nach Hause zu fahren. Die Situation ist ihnen zu gefährlich. Sie können nichts mehr tun.
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00.20 Uhr

Zu Hause angekommen sind Andreas Neumann und Silke Herrmanns unruhig, aufgekratzt und gleichzeitig erleichtert. Sie wohnen auf einem Berg, zehn Autominuten vom Geschäft entfernt. Leere und Unsicherheit übertönen die Erleichterung. Trotzdem bleibt die Hoffnung, dass man “mit dem Popo an der Wand irgendwie doch davonkommt”, sagt Andreas Neumann. Um 00:30 Uhr hören die beiden den Stadtalarm und Sirenen.


9.00 Uhr


Das Frühstück bei Silke Hermanns und Andreas Neumann ist an diesem Morgen nicht besonders. Kein Ei oder geschnittene Früchte. Seit Stunden scrollen sie durch Facebook und WhatsApp. Direkt gegenüber ihres Unverpacktladens fährt jemand mit einem Schlauchboot. Sie sehen Bilder und Videos, auf denen meterhoch das Wasser im Zentrum Leichlingens steht, hören immer wieder Sirenen aus der Ferne. Herrmanns und Neumann entscheiden: runter in die Stadt zufahren würde jetzt noch nichts bringen. Zu viel Verkehr, zu viel Wasser und zu große Angst.


12:30 Uhr


Andreas Neumann sieht durch das Fenster die Polizei kommen. Ihm ist sofort klar, dass es um den Unverpacktladen geht. Die Polizisten bitten die Geschäftsinhaber, ihren Laden zu sichern. Die Fassade ist weg. “Jetzt ist der Arsch ab”, denkt sich Neumann. Er befürchtet das Schlimmste. Was dann kommt, ist noch schlimmer.
Die Schaufensterseite des Unverpacktladens ist weg, alles offen und verwüstet. Eine Frau von gegenüber berichtet, dass es gegen drei oder vier Uhr nachts laut geknallt hat. Im Geschäft ist kaum etwas an seinem Platz. Nur die Regale, die Andreas Neumann fest an die Wand geschraubt hat, stehen noch.
Die sicher geglaubte Elektronik, der Staubsauger auf der Heizung, alle Produkte: Sie sind im und um den Laden verteilt. Der Keller ist noch komplett voller Wasser, “da hätte man Taucherausrüstung gebraucht”, sagt der 53-Jährige. Das Erdgeschoss ist ein Bild aus Schlamm und Verwüstung. 1,20 Meter stand das Wasser im Geschäft. Die Wendeltreppe mitten im Laden, die in den Keller führt, hat keinen sichtbaren Anfang und kein Ende mehr. Die ersten Stufen sind bestenfalls zu erahnen.


13:30 Uhr


„Wir hatten keine Ahnung, wo wir anfangen und aufhören sollten“, sagt Silke Herrmanns. „Das Einzige, was in den Trümmern am Donnerstag klar war: Das ist es nicht gewesen, wir machen weiter“.Die Landwirte aus der Umgebung waren die ersten gewesen, die halfen, berichtet Herrmanns. Ein Landwirt fängt einfach an, den Keller des Unverpacktladens auszupumpen. Die Güllepumpe ist bis Samstagmittag um 13 Uhr im Einsatz. Dann können Neumann und Herrmanns in Gummistiefeln den Keller betreten und das gesamte Ausmaß der Flut in ihrem Laden überblicken. Sie wissen bis heute nicht, wie der Mann heißt. „Er hat das einfach gemacht und dann woanders geholfen“, sagt Silke Hermanns.
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9 Uhr

Den Tag über kommen weitere Helferinnen und Helfer. Jugendliche, die von Donnerstag und über das Wochenende hinaus mitgeholfen haben und morgens um 9 Uhr einfach vor der Tür standen. Silke Herrmanns und Andreas Neumann haben die meisten vorher nie gesehen. Vor dem Unverpacktladen türmen sich die Müllberge – wie überall im Leichlinger Zentrum.


Epilog


Die Flutkatastrophe ist für Silke Hermanns und Andreas Neumann der Beweis, dass ihr Unverpacktladen gebraucht wird. „Jetzt wissen wir spätestens, dass wir in einer Klimakrise hängen“, sagt Silke Herrmanns. Ende Juli eröffnen sie ihr Geschäft übergangsweise im Cafe Büchel, sanieren parallel den alten Laden.
Am 15. Februar 2022 haben sie ihn wieder aufgemacht. Alpträume haben sie die vergangenen Monate begleitet, sie haben viel geweint, aber vor allem viel gelacht. Jetzt hoffen sie auf bessere Zeiten für ihren Unverpacktladen und haben schon neue Ideen.

- aufgezeichnet von Maurice Mommer
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Lars Dulies

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1,70 Meter hoch stand das Wasser in der Paul-Klee-Schule in der Flutnacht. Schnell war klar, dass das Gebäude nicht mehr zu retten ist. Besonders tragisch: Bereits 2018 stand die Schule für Kinder mit Behinderung aufgrund des Starkregens knietief unter Wasser.

Damals entschied sich der Schulträger LVR für eine Sanierung - im August letzten Jahres sollte ein großes Sommerfest zur Wiedereröffnung gefeiert werden. Doch die Flutkatastrophe zerstörte die frisch renovierten Schulräume.

Die Schüler:innen konnten nach den Sommerferien nicht in ihr vertrautes Gebäude zurückkehren. Hausmeister Lars Dulies arbeitete erst seit wenigen Wochen an der Schule, als die Flutkatastrophe seinen vollen Einsatz forderte. „Zwei solche Katastrophen so kurz hintereinander sind ein großes Trauma für alle Betroffenen - besonders für die Kinder”, sagt Dulies.
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Lars Dulies, LVR-Paul-Klee-Schule

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7.15 Uhr

Am Dienstagabend macht Lars Dulies einen letzten Kontrollgang über das Gelände der Paul-Klee Schule. Obwohl es bereits stark regnet, ist er zu diesem Zeitpunkt noch entspannt. In die Klassenräume und den Keller ist noch kein Wasser eingedrungen. „Abends habe ich mir noch gar keine Sorgen gemacht, alles war trocken”, erinnert er sich.

17.15 Uhr

Dulies macht ganz regulär Feierabend und fährt nach Hause.

22 Uhr

Zuhause in Wuppertal angekommen, erhält Dulies gegen 22 Uhr den Anruf eines besorgten Lehrers, der gerade im Frankreichurlaub ist. Eine Anwohnerin hatte wegen der Überflutung des Schulhofes Alarm geschlagen. „Da habe ich zuhause alles stehen und liegen gelassen und bin in Rekordzeit nach Leichlingen gefahren”, sagt Dulies.

Dort angekommen erkennt Dulies nichts Auffälliges - bis er beim Lidl Parkplatz oberhalb der Schule ankommt. Das Wasser hat im Supermarkt bereits die Kassenbänder geflutet. „Da wusste ich, dass wir verloren sind, weil wir nochmal einen guten Meter tiefer liegen”, sagt Dulies.

Zu dieser Uhrzeit ist es aufgrund der Wassermassen schon nicht mehr möglich das Schulgebäude zu erreichen. Dulies stellt sein Auto ab und läuft bis zur Wupperbrücke in nächster Nähe der Schule. Die Wupper steht jetzt schon bis zur Deichkrone. „In dem Moment konnte ich gar nichts machen, das wäre alles viel zu gefährlich gewesen”.
Gemeinsam mit der Schulleiterin beobachtet Dulies von der Brücke aus eine knappe Stunde die sich anbahnende Katastrophe.

23 Uhr

Das Transformatorhäuschen im Garten der Schule mit großem Knall in die Luft. „Als der Notstrom dann nach wenigen Minuten direkt wieder ausging, wusste ich, dass jetzt auch die Batterieräume überflutet sind”.

23.30 Uhr

Lars Dulies hat das Gefühl, dass er vor Ort nichts mehr ausrichten kann und macht sich auf den Weg zurück nach Wuppertal. Bis vier Uhr morgens läuft er durch die Straßen und versucht sich ein Bild von der Katastrophe zu machen.

„Mit dem was ich da in Wuppertal gesehen habe, war mir klar: Das nimmt kein gutes Ende in Leichlingen”. Während Dulies die Nacht in seiner Heimatstadt verbringt, erreicht das Wasser in der Paul-Klee-Schule seinen Höchststand von 1,70 Meter.

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Die Schule am 17. Juli 2021.
Die Schule am 17. Juli 2021.
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7.30 Uhr

Pünktlich zum regulären Dienstbeginn, ist Lars Dulies am Donnerstag wieder in Leichlingen. Doch noch immer kann er das Gelände der Schule nicht betreten – die Strömung auf dem Schulhof ist lebensgefährlich. „Zu der Zeit war in Leichlingen noch kompletter Ausnahmezustand”, erinnert sich Dulies. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten. Er setzt sich in die Bushaltestelle oberhalb der Schule und harrt dort mehrere Stunden aus. „Als ich dort saß, habe ich mich mental darauf vorbereitet, was jetzt die nächsten Wochen und Monate auf mich zukommt.”


ca. 14 Uhr 


Die Strömung auf dem Schulgelände ist nicht mehr stark. Lars Dulies macht sich auf dem Weg ins Schulgebäude und watet mit Badehose und Sportschuhen über den Schulhof. Das Wasser steht zu diesem Zeitpunkt noch ungefähr 80 Zentimeter hoch. „So ganz ungefährlich war das vielleicht nicht”, sagt Dulies heute.

Er betritt das zerstörte Schulgebäude und dokumentiert alles mit seinem Handy. „Ich war schon sehr vorsichtig und habe mich Schritt für Schritt durch die braune Brühe bewegt, weil ich auch kein Risiko eingehen wollte”, sagt der Hausmeister. „Das ganze Gebäude sah aus wie nach einem Bombenangriff - alles war durcheinander und umgestürzt”, so Dulies. Ihm wird in diesem Moment klar, dass die Schule nicht mehr zu retten ist

Die Schule am 17. Juli 2021.
Die Schule am 17. Juli 2021.
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Lars Dulies
Lars Dulies
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9 Uhr

Als das Wasser am nächsten Tag komplett abgeflossen ist, kommt Dulies zurück ins Schulgebäude. „Ich habe dann angefangen Sachen einzusammeln oder erstmal mich selbst zu sammeln”, sagt er. Alle Therapiegräte, Sportsachen und Einrichtungsgegenstände sind nicht mehr brauchbar.



Epilog


Die Paul-Klee-Schule wird in Leichlingen nie wieder ihre Türen öffnen. Alle Therapiegeräte, Sportsachen und Einrichtungsgegenstände sind nicht mehr brauchbar. Die Schule soll jetzt im Nachbarort Langenfeld neu aufgebaut werden.

Eine Erinnerung an das alte Schulgebäude kann Dulies allerdings noch aus dem Chaos retten: ein Stofftier in Form eines Froschkönigs - eine Art Schulmaskottchen. „Ich habe gehofft, dass die Kinder sich damit später wenigstens mit einer Kleinigkeit aus ihrer alten Schule identifizieren können”, sagt er.


- aufgezeichnet von Hannah Waltersberger
Lars Dulies
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Dominik Lange

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16 Uhr

Dominik Lange sitzt im bergischen Ort Lindlar mit seiner Familie und Schwiegereltern beim Kaffeetrinken, als er eine SMS auf sein Handy erhält. Er ist Notfallsanitäter, aber auch ehrenamtlicher Mitarbeiter des DLRG Ortsverbandes und ausgebildeter Strömungsretter – ein Spezialist um Menschen aus fließenden Gewässern zu bergen.
Er setzt sich in sein Auto, um durch den starken Regen zum Stützpunkt nach Leichlingen zu fahren. Unterwegs sieht er schon vollgelaufene Bäche und überschwemmte Straßen. Von unterwegs ruft er eine Bekannte in Opladen südlich von Leichlingen an. Die Wupper sei zwar voll, aber es gebe noch „viel Luft nach oben“, sagt sie ihm. Lange ahnt nicht, dass er in wenigen Stunden in Leichlingen eine Grenzerfahrung machen wird.

16.40 Uhr


Der gefallene Regen hat den Weg von DLRG-Retter Lange zum Stützpunkt erschwert. Erst nach einigen Umwegen kann er zu Kolleginnen und Kollegen aus dem Rheinisch-Bergischen-Kreis stoßen. Er zieht sich seine Kluft an: Neopren-Anzug, Handschuhe, Schwimmweste, Wildwasserhelm. Danach rücken alle gemeinsam als Trupp aus. Erster Einsatzort: ein Bauernhof in Witzhelden eine Viertelstunde östlich der Innenstadt.  


18 Uhr

Der erste Einsatz bringt DLRG-Helfer Dominik Lange zu einem Bauernhof nahe der Ortschaft Witzhelden. Ein kleiner Bach hat den Hof hüfttief überspült. Die Feuerwehr hat bereits ein paar Schafe vor dem Ertrinken gerettet. Mit einem Schlauchboot bringen Lange und das Team das Bauernpaar zu den Nachbarn in Sicherheit.  

19 Uhr

Vom Bauernhof in Witzhelden fahren die DLRG-Retter in ein zwei Kilometer entferntes Altenheim, das vollzulaufen droht. Bei der Ankunft entdeckt der Trupp ein ertrunkenes Schaf – es ist klar: Die Feuerwehr hatte beim Bauernhof nicht alle Tiere retten können. Spätestens jetzt zeigt sich die Gefahr der Unwetterlage. Die Lage am Altenheim selbst ist jedoch nicht brenzlich. Die Retter rücken bald wieder ab.

20 Uhr

Der DLRG-Trupp erreicht Nesselrath, oberhalb der Stadt – und ist ab sofort im Dauereinsatz. Das Wasser steht stellenweise mehr als einen Meter tief. Lange und seine Kollegen schaffen es bei einigen Bewohner nicht sie zu überzeugen, ihre Häuser zu verlassen. Andere Menschen bringen die Strömungsretter in Sicherheit, auch Hunde und Katzen.

Einen verzweifelten Mann ziehen sie aus bereits brusttiefem Wasser auf das „Raft“ genannte Schlauchboot. Weiter geht es zu Autos, auf deren Dächern Menschen ausharren, überrascht von der Naturgewalt. Von einige Hausdächern birgt Lange ebenso hilflose Personen wie am Campingplatz Vorstblick.
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0 Uhr

Die Entleerung der Wuppertalsperre ist inzwischen gestartet und die Flutwelle nimmt ihren Weg durch die Gemeinden entlang des Flusses. Der Pegel ist jetzt so hoch, dass in Leichlingen Brücken überflutet werden. DLRG-Retter Dominik Lange muss zwei Männer von einer Wupperbrücke retten. Sie wollten sich „das Ganze nur mal aus der Nähe ansehen“.

1 Uhr nachts

Viele Leichlinger melden sich bei den Rettungsdiensten – sie erreichen nach Stromausfall und Handynetz-Abbruch ihre Angehörigen im überschwemmten Gebiet nicht. Die Feuerwehr gibt Informationen an den DLRG-Trupp aus Lindlar weiter. „Schaut nach lost contacts“, wie verschollene Personen genannt werden.

Lange und das Team haben das Raft gegen ein Boot mit Motor getauscht, zu tief steht das Wasser in der Stadt. Mit Gewalt bricht Lange Türen und Fenster auf und sucht in Häusern nach Vermissten.

Jedes Jahr trainiert im Österreich-Urlaub das Schwimmen in stark strömenden Gewässern, heute hilft im das enorm.  


3 Uhr nachts

Dominik Lange hört vom Boot Hilferufe in einem nahegelegenen Haus an der Neukirchener Straße. Die Gegend ist stockfinster, im 2. Obergeschoss sehen er und die Helfer den Schein von Taschenlampen.

Sie machen das Boot am Haltestellenschild „Alte Holzer Straße“ fest und springen ins Wasser, dass bis zum Hals steht.

„Wir schwammen um das Haus, da der Eingang auf der Rückseite lag und riefen, dass uns jemand öffnen sollte. Eine Frau antwortete, dass sie zur Haustür komme. Im Schein meiner Lampe bemerkte ich, dass so etwas wie Trockeneisnebel aus dem Türspalt waberte und direkt verflog. Auch hörte ich ein seltsames Brummen. Das war merkwürdig, denn der Strom war ja abgestellt“, erinnert sich Lange.

„Die Frau öffnete die Türe und ich trat einen Schritt in den Hausflur. Dort sah ich, wie ein medizinischer Sauerstofftank im Wasser trieb und seinen Inhalt abblies.

In der gesamten Wohnung lag ein Sauerstoffnebel über der Wasserfläche, gepaart mit dem bestialischen Gestank von ausgelaufenem Heizöl. Neben mir stand eine ältere Dame. Sie hatte mir die Türe geöffnet.

Eine weitere Frau stand auf dem Treppenabsatz zum ersten Obergeschoss. Ich forderte beide Damen auf, mit uns das Haus zu verlassen. Sie entgegneten, dass wir noch den Mann aus dem zweiten Stock holen müssen.

Mit dem Bewusstsein wie im wahrsten Sinne des Wortes, brandgefährlich die Situation war, wiederholte ich meine Aufforderung und sagte, wir würden erst sie in Sicherheit bringen und dann ihren kranken Mann holen. Dem stimmte sie zu und wollte gerade die Treppe zu uns hinunterkommen.

Die Frau auf der Treppe sah mich an und sagte, hinter mir würde es anfangen zu brennen. Ich drehte mich um und sah wie ein heller Funke aufs Wasser viel. Ich griff mir die Dame, die uns die Tür geöffnet hatte, zog sie mit mir vor die Haustür und schloss diese hinter mir.

Im gleichen Moment gab es eine heftige Explosion.

Wir zogen uns mit der Geretteten in den Vorgarten zurück und hörten dort die Schreie der Frau im Hausflur. Ich war mir sicher, ihr beim Sterben zuhören zu müssen.

Auf Hilfe brauchten wir nicht warten. Wir waren zu diesem Zeitpunkt die einzigen, die das Haus erreichen konnten.

Im kompletten Untergeschoss ‚brannte‘ das Wasser. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Geistesgegenwärtig rief mein Kollege der Frau zu, sie solle auf den Balkon gehen. Ich hätte nie erwartet, dass sie das schafft.

Doch einen Moment später sahen wir sie an einem Fenster zum Balkon. Mein Kollege kletterte über ein Rankgitter hinauf und ich folgte ihm. Unser dritter Mann bleibt bei der unverletzten Frau im Vorgarten.

Auf dem Balkon sahen wir, wie schwer verbrannt die alte Dame war. Sie war von Kopf bis Fuß verrußt. Wir zogen sie aus dem Fenster, da sie das aus eigener Kraft nicht schaffte. Dann stiegen wir mit Ihr über das Balkongeländer und sprangen gemeinsam ins Hochwasser und ließen sie nicht los.

Wir schwammen mit beiden Frauen vorbei am brennenden Haus zu unserem Boot. In diesem Moment wussten wir alle, dass wir ihren Mann verloren hatten.

Es war ein unglaublicher Kraftakt, beide Frauen aus dem strömenden Hochwasser ins Boot zu hieven. Wir fuhren so schnell es ging an Land, versorgten die verbrannte Frau. Wenig später traf ein Rettungswagen ein.“


5 Uhr morgens

Dominik Lange ist seit 13 Stunden im Einsatz. Der DLRG-Trupp hat das eigene Boot mittlerweile mit einer Pumpe der Feuerwehr ausgerüstet. Bis in die Morgenstunden schützen er und das Team das Nachbarhaus vor einem Übergreifen des Feuers. Andere Rettungskräfte haben in der Zwischenzeit eine junge Familie mit Kleinkind und ein älteres Ehepaar aus den angrenzenden Häusern evakuiert.  


10 Uhr

Dominik Lange ist mittlerweile zu Hause. Das Haus an der Neukirchener Straße brennt noch immer.

Ein Polizeihubschrauber ist im Einsatz. Aus dem Freibad holt er mit einem großen Plastikbehälter regelmäßig Wasser und entlässt es über dem Gebäude.

Ein 86-jähriger Mann ist dort ums Leben gekommen. Zwei Frauen konnte Lange mit den beiden DLRG-Kameraden vor dem Feuertod inmitten der Flut retten.

- Dominik Lange, Redaktion: Martin Dowideit
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Frank Steffes, Bürgermeister

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13. Juli 2021

Der Leichlinger Bürgermeister Frank Steffes macht mit seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar eine Motorrad-Tour durch Deutschland. Die vier Urlauberinnen und Urlauber kommen in Titisee-Neustadt im Schwarzwald an. In Süddeutschland regnet es.

14 Juli 2021

8.15 Uhr

Bürgermeister Frank Steffes ist immer noch im Motorrad-Urlaub. Er macht einen Ausflug von Titisee-Neustadt nach Freiburg. Dort scheint den ganzen Tag lang die Sonne.

Leichlinger Bürgerinnen rufen schon vormittags bei ihm an, weil sie sich Sorgen machen, dass die Gemeinde erneut eine Hochwasserkatastrophe erleben könnte. Die Gemeinde war 2018 bereits überflutet worden.

Mit Sorge prüft Steffens den ganzen Tag immer wieder das Regenradar.

16.05 Uhr

Eigentlich müsste Bürgermeister Frank Steffes seine Nachrichten-Verläufe auf WhatsApp regelmäßig löschen. Die IT der Stadtverwaltung liegt ihm ständig deswegen in den Ohren. Für die Rekonstruktion der Ereignisse vom 14. und 15. Juli 2021 erweist es sich als Segen, dass er nicht auf die IT-ler gehört hat.

Obwohl er an beiden Tagen im Motorrad-Urlaub in Süddeutschland ist, kann er aus seinen Chats heute noch genau nachvollziehen, was vorgefallen ist.

Ingolf Bergerhoff, Fachbereichsleiter Soziales und Stellvertreter des Bürgermeisters, schreibt Steffes jedenfalls um kurz nach vier, dass in Leichlingen zum zweiten Mal Land unter ist, noch scherzhaft. „Hoffentlich haben die Leute Sandsäcke gebunkert”, whatsappt Steffes.

kurz vor 17 Uhr

Im Exil seines Motorradurlaubs in Freiburg wird Bürgermeister Frank Steffes leicht panisch. Er schreibt dem Fachbereiter Soziales Ingolf Bergerhoff, will wissen, wie stark es inzwischen regnet.
Er schickt seinen Sohn, der in Leichlingen vor Ort ist, in den Keller seines Hauses. Zwischen Mauerwerk und der Kellerdecke ist ein Spalt, der Steffes Sorge bereitet. Noch ist aber alles trocken.

17.14 Uhr bis 17.16 Uhr

Bergerhoff schreibt Bürgermeister Frank Steffes eine WhatsApp-Nachricht, warum Katastrophen immer dann passieren, wenn er im Urlaub sei. Bei der Flut im Jahr 2018 war es genauso.

Steffes steht aber diesmal schon mit den Bürgermeister*innen der umliegenden Gemeinden in Kontakt. Zusammen mit Stefan Meiner, Führer des Löschzugs 1 der Leichlinger Feuerwehr, organisiert er den Einsatz. Der macht ebenfalls Urlaub, am Timmendorfer Strand. Meiner schreibt, dass die Lage ab 19 Uhr dramatisch werden könnte.

18.11 Uhr

Bürgermeister Frank Steffes schreibt aus dem Urlaub in Süddeutschland eine WhatsApp an den Fachbereichsleiter Soziales Ingolf Bergerhoff: „Leichlingen scheint abzusaufen.“ Im Keller der Familie Steffes steht jetzt das Wasser.

14 Juli, gegen 21 Uhr

Bürgermeister Frank Steffes und die anderen Urlauber sind wieder in Titisee-Neustadt. Fachbereichsleiter Soziales Ingolf Bergerhoff schickt Steffes Bilder, die ihn richtig panisch machen. Da Juli ist, ist es draußen noch taghell. Die Siedlung Büscherhöfen und die Paul-Klee-Schule stehen unter Wasser.
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Gegen Mitternacht

Nach ein paar Bier geht Bürgermeister Frank Steffes schlafen. Er möchte wenigstens etwas Ruhe bekommen, um am nächsten Morgen fit für den Rückweg von Titisee-Neustadt nach Leichlingen zu sein. Durchschlafen wird er nicht – nachts schaut er immer wieder auf sein Handy, um die eingehenden Nachrichten zu lesen.

1.15 Uhr

Fachbereichsleiter Bergerhoff schreibt Steffes, dass der Strom ausgefallen ist und in Leverkusen das Krankenhaus evakuiert wurde. Der zweite Bürgermeister Thomas Knabbe informiert Steffes per WhatsApp, dass er mit seiner Frau darüber diskutiert, wann und wie sie ihren Urlaub auf Sylt abbrechen.

zwischen 5 und 6 Uhr

Bürgermeister Frank Steffes, seine Frau und die anderen Uralubenden überlegen, in Freiburg auf einen Mietwagen umzusteigen und die Motorräder später abzuholen. Steffes dauert das zu lange. „Mit den Mühlen geht es am schnellsten“, entscheidet die Truppe und will nun direkt aus Titisee-Neustadt losfahren.

8.15 Uhr

In West-Leichlingen gibt es teilweise wieder Strom. Der Wasserstand fällt.

15. Juli, 9.04 Uhr

Die Motoradgruppe macht sich auf den Weg aus dem Schwarzwald-Urlaub nach Leichlingen. Steffes telefoniert während der Fahrt mit einem Headset unter dem Helm. So gibt er auch dem WDR ein Interview.

Die Sonne scheint, nur einmal erwischt die Gruppe ein kleiner Schauer. „Ich habe mich gefühlt, als würde ich in einer Parallelwelt leben. Nichts war mehr normal“, sagt Steffes heute. Dieses Gefühl wird die folgenden zehn Tage anhalten.


14.58 Uhr

Auf der Fahrt von Süddeutschland nach Hause rasten Bürgermeister Frank Steffes und seine Begleiter*innen in Heidelberg. Ab Frankfurt fahren sie über die Autobahn A3. Die A61 meiden sie: wegen der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal.

gegen 18 Uhr

Steffes kommt aus dem Urlaub in Leichlingen an. Er fährt sofort mit dem Roller zur Feuerwehr. Dort tagt der Krisenstab der Gemeinde Leichlingen, weil das Rathaus überflutet ist.

Steffes und die Leiterin des Ordnungsamtes Karin Barkowski fahren mit einem kleinen Einsatzwagen in die Stadt. Das Wasser hat sich zurückgezogen, die Straßen sind wieder trocken.

Auf dem Lidl-Parkplatz liegen tote Fische. Überall laufen Pumpen. Steffes kommt an dem Haus in der Neukirchener Straße vorbei, das in der Nacht abgebrannt ist. Noch sieht er zu diesem Zeitpunkt nicht, wie dramatisch die Lage ist, sagt er heute: Auf den Straßen türmt sich bisher kein Sperrmüll.

Seit dem Nachmittag gibt es im Rathaus wieder Strom für die EDV, auch damit Bürger*innen die Stadtverwaltung erreichen können. Steffes darf rein ins Gebäude, zur Sicherheit allerdings nur zusammen mit einer anderen Person.

22.45 Uhr

Steffes schreibt dem zweiten Bürgermeister Thomas Knabbe, dass es nun ans Aufräumen gehe.

23.30 Uhr

Aus Sylt schreibt Knabbe dem Brügemeister. Er fragt, wie es ihm gehe. „Schlecht“, antwortet Steffes. Auch sein Galgenhumor hilft nicht mehr. „Ich brauche einfach mal zwei Wochen zusammenhängenden Urlaub, das hatte ich seit mehr als eineinhalb Jahren nicht mehr“. Die Flut hat das verhindert.

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9 Uhr

Bürgermeister Frank Steffes bereitet sich in Leichlingen auf ein weiteres Treffen des Krisenstabs in der Feuerwache vor. Auf Sylt packt der zweite Bürgermeister Thomas Knabbe seine Koffer für die Heimreise.

Der Bürgermeister überlegt, seinen Stellvertreter per Facetime am Treffen teilnehmen zu lassen, weiß aber nicht, ob das klappt: noch funktioniert das Mobilfunknetz nicht zuverlässig.

Nachmittag

In Leichlingens Straßen türmen sich Müllberge, der Strom ist vielerorts noch immer ausgefallen. Ehrenamtliche sperren Straßen ab, schicken Gaffer weg. Für den Ortsteil Wupperhof an der Stadtgrenze zu Solingen müssen Stadtverwaltung und Einsatzkräfte Trinkwasser organisieren.

17. Juli

Steffes entscheidet, in der Balker Aue eine zusätzliche Mülldeponie anzulegen. In einer solchen Situation spielt es aus seiner Sicht keine Rolle, ob er dafür eine Genehmigung hat oder nicht. Er will pragmatisch handeln, und der Müll ist eine gewaltige Brandlast. „Wenn irgendein Idiot hier Feuer legt, dann brennt die ganze Stadt!”, erklärt er heute.

Epilog

Das Thema Abfall beschäftigt Bürgermeister Frank Steffes noch fast zwei Monate lang. In diesem Zeitraum transportiert das Abfallwirtschaftsamt den Müll ab und verteilt ihn auf umliegende Müllverbrennungsanlagen.

In der Stadtverwaltung sind die Folgen der Flutkatastrophe bis heute zu spüren. Im Rathaus funktioniert nur einer von zwei Fahrstühlen, und das Wasser im Keller hat die komplette Registratur – der nicht-historische Teil des Archivs – zerstört.

- aufgezeichnet von Laura Alviz
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Maggy Richter-Frost

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13. Juli 2021

9 Uhr

Blumenhändlerin Maggy Richter-Frost sieht auf ihrer Wetter-App, dass Starkregen erwartet wird. Dass es zu so einer dramatischen Flut kommt, erwartet sie allerdings nicht. Sie hat Sorge, dass ihr Keller vollläuft.


10 Uhr

Richter-Frost fährt zum Raiffeisenmarkt, um dort Säcke zu kaufen und anschließend zu ihrem Pferdestall, um sie dort mit Sand zu füllen. Anschließend legt sie die Säcke in einer Ecke in ihrem Laden ab.



14. Juli


8.30 Uhr

Schichtbeginn im Blumen-Pavillon. Es regnet ununterbrochen. Maggy Richter-Frost platziert die Sandsäcke vor ihren Außenschächten. Wegen des schlechten Wetters erwartet sie kaum Kundschaft.

Mittag


Den Tag über nutzt Maggy Richter-Frostt in ihrem Blumenpavillon die Zeit, um das Schaufenster auszuräumen, die Scheiben zu putzen und neu zu dekorieren. Sie ist den ganzen Tag beschäftigt und schaut deshalb auch nicht auf ihr Handy. Es regnet den ganzen Tag „wie verrückt“.

Ihre Sorge ist allerdings nicht, dass die Wupper überlauft – die ist relativ weit von ihrem Laden entfernt und sie sieht sie auch vom Laden aus nicht– sondern dass, wie im Sommer 2018 bereits passiert, Wasser die Kirchstraße runterfließt und in ihren Keller läuft.


21 Uhr

Richter-Frost verlässt ihrem Blumenpavillon am Stadtpark mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Auf dem Heimweg über die Wupperbrücke fällt ihr auf, dass der Pegel des Flusses bereits ziemlich hoch ist – das ist aber bei starkem Regen nicht ungewöhnlich. Zuhause kann sie nicht aufhören, darüber nachzudenken, ob bei ihrem Laden alles in Ordnung ist.

22.30 Uhr

Maggy Richter-Frost fährt von ihrem Haus auf der anderen Seite der Wupper stadtauswärts mit dem Auto zurück zum Blumenpavillon am Stadtpark. Sie will prüfen, ob die Sandsäcke richtig liegen und die aktuelle Lage einschätzen. Am Laden angekommen schaut sie nur kurz nach dem Rechten, denn ihr ist klar, dass sie die Innenstadt schnell wieder verlassen muss - sonst kommt sie über die Wupperbrücke nicht wieder heim.

22.45 Uhr

Auf dem Rückweg von ihrem Blumenpavillon über die Wupperbrücke hat Richter-Frost “wirklich zittrige Knie“. Das Wasser steht nur wenige Zentimeter unter der Brücke. Sie beobachtet erschrocken, dass Eltern mit kleinen Kindern noch auf der Brücke stehen

23 Uhr

Richter-Frost verfolgt die Lage übers Internet, über Facebook: Leichlingen – Info offenes Forum, über WhatsApp, lädt sich die Nina Warn-App runter.

23.45 Uhr


Maggy Richter-Frost bekommt einen Anruf von den Nachbarn die gegenüber ihres Blumenpavillons am Stadtpark wohnen. Man teilt ihr mit, dass das Wasser von der Wupper bereits in den Stadtpark und bis in ihren Blumenpavillon läuft.
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0 Uhr

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Blumenhändlerin Maggy Richter-Frost bekommt die Warnung mit, dass in einer Stunde die Stadt überflutet wird und dass bestimmte Stadtteile evakuiert werden müssen.

0.45 Uhr

Richter-Frost hört Sirenen und eine Lautsprecherdurchsage, die sich immer wiederholt. Allerdings kann sie den genauen Wortlaut nicht verstehen, die Ansage ist zu weit weg.

0.55 Uhr

Stadtalarm. Kurze Zeit später fällt im Zuhause der Blumenhändlerin der Strom aus. Die ganze Nacht über schläft sie nicht, sondern ist in Gedanken bei ihrem Laden, verfolgt die Situation auf ihrem Handy, das nur noch wenig Akku hat. Der Rest ihrer Familie schläft.

7.00 Uhr

Die Nachbarn ihres Blumen-Pavillons schicken Maggy Richter-Frost ein Video, aufgenommen von deren Fenster aus, vom überflutetem Laden und dem Stadtpark. Laut Richter-Frost wollten sie ihr das in der Nacht nicht zumuten.

Darin zu sehen: Innenstadt und Stadtpark sind komplett überflutet. Das ist für Richter-Frost “ein Schock ohne Ende“. Ihr ist klar, dass der komplette Keller ihres Ladens und der Verkaufsraum unter Wasser stehen.

Das ist dramatisch, denn im Keller befinden sich die Heizungsanlage, Lüftungsanlage, Hebeanlage, Stromkasten, Elektrik, ein kleines Badezimmer und alles Material, welches sie das Jahr über braucht. Der Keller ist ihr Kapital.

7.15 Uhr


Um ihr Handy zu laden und zu duschen, fahren die Blumenhändlerin und ihr Mann zu dessen Firma in Langenfeld. Dort sitzen sie zwei Stunden und warten, bis der Akku ihrer Handys voll sind.

Zuhause haben sie weder Strom noch Internet, Richter-Frost bekommt für Tage keine Nachrichten mit, auch nicht über die dramatischen Ausmaße der Flut in anderen Teilen Deutschlands. Sie ist von der Außenwelt abgeschnitten.

Wegen des Stromausfalls gehen die elektrischen Rollos nicht mehr hoch. Zehn Tage Dunkelheit in ihrem Haus, Licht kommt von Kerzen.


12 Uhr

Durch die Nachbarn des Ladens erfährt Maggy Richter-Frost, dass das Wasser langsam zurück geht und Chaos in der Innenstadt herrsche.

18.30 Uhr

Richter-Forst fährt mit dem Fahrrad zu ihrem Blumenpavillon. Sie bekommt zunächst die Tür nicht auf, weil sie von Möbeln und der gesamten Ware versperrt wird.

Das Bild, das sich ihr bietet: Alle Möbel sind wild verstreut, nichts ist mehr an Ort und Stelle und von Schlamm überzogen. Kein Teil ist mehr brauchbar.

„Im ersten Moment denkt man, das war’s jetzt mit deiner Existenz. Wo will man weitermachen? Das geht einfach nicht. Dass man alles wieder aufbauen könnte, habe ich in dem Moment nicht gedacht.“

Der Keller war durch die Außenschächte vollgelaufen und das Wasser im Laden hatte das Mobiliar um etwa 1,20 Meter angehoben. Der Keller sorgte für Glück im Unglück – wäre er nicht, hätte das Wasser von außen so stark auf die Fensterscheiben gedrückt, dass sie zerbrochen wären. Dann wäre vermutlich der ganze Glaspavillon eingestürzt.

22 Uhr

In ihrem WhatsApp-Status teilt Blumenhändlerin Richter-Frost den Aufruf, beim Ausräumen ihres Ladens mit anzupacken. Am nächsten Morgen werden dutzende Helfer mit Stromaggregaten und Schmutzwasserpumpen vor ihrem Laden stehen, darunter Bekannte, mit denen sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte.


Gespräche mit Handwerksfirmen zeigen, dass die Wartezeiten lang sind, zum Teil werden ihr Kostenvoranschläge mit horrenden Summen unterbreitet. Richter-Frost hat keine Elementarversicherung, deshalb muss sie alle Schäden aus eigener Tasche begleichen.

- aufgezeichnet von Marie Scholl
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Ingolf Bergerhoff

14. Juli 2021

Ingolf Bergerhoff
Ingolf Bergerhoff
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8.30 Uhr

Ingolf Bergerhoff hat sich gerade an seinen Schreibtisch gesetzt. Von seinem Büro im fünften Stock des Leichlinger Rathauses aus hat er einen weiten Ausblick, auch auf die Wupper, die neben dem Rathaus fließt.

Der Fachbereichsleiter für Soziales, Bildung und Sport ist gerade die Person mit dem höchsten Dienstrang im Rathaus, denn der Bürgermeister und sein Stellvertreter sind im Urlaub. Ihm ist klar: „Wenn es gefährlich wird, muss ich das managen.“

Bergerhoff schickt Mitarbeiter des Abwasseramts an die vielen Bäche und Flüsse, lässt sich laufend den Wasserstand melden. Bis 14 Uhr sieht es so aus, als würde der Stadt das Schlimmste erspart bleiben.

ca. 15 Uhr

Bergerhoff sitzt noch in seinem Büro im Rathaus. Der Regenradar zeigt: Der Starkregen trifft die Stadt nun doch. Zeitgleich kommen die ersten Meldungen seiner Kollegen an den Bächen: Es wird an mehreren Stellen kritisch. Immerhin: Der Wasserstand der Wupper ist noch nicht gefährlich.

Bergerhoff beschließt dennoch, den Krisenstab einzuberufen. Gemeinsam mit Leuten vom Ordnungsamt, Tiefbau- und Hochbauamt, Presseamt und mit dem Bauhofleiter sitzt Bergerhoff nun in der Feuerwehrwache.

Nebenher versucht er Bürgermeister Frank Steffes auf dem Laufenden zu halten. Oft ist der Leiter des Krisenstabs aber in wichtige Gespräche verwickelt. „Das ist auch eine neue Erfahrung, den Bürgermeister einfach wegzudrücken.“

ca. 18 Uhr

Ingolf Bergerhoff sitzt mit dem Krisenstab im Feuerwehrhaus. Für ihn besorgniserregend: Die Diepentalsperre, direkt bei der Stadt, droht zu brechen. Dann würden Wohngebiete überschwemmt.

Der Krisenstabsleiter weist die Feuerwehr an, die Menschen dort sofort zu evakuieren. Die Feuerwehr hat noch genügend Leute zur Verfügung, die jetzt von Haus zu Haus gehen und an allen Türen klingeln. Die Talsperre wird Bergerhoff die ganze Nacht beschäftigen.   Im Krisenstab geht die Arbeit nun erst richtig los. Bergerhoff muss Unterkünfte für evakuierte Bewohner finden, die nicht bei Freunden oder Verwandten unterkommen können.

Zwei Busse bringen die Menschen zur Mensa im Schulzentrum. Als die Flut den Campingplatz Vorstblick erreicht, kommen auch die Camper in der Notunterkunft unter. Am Ende sind es 80 Menschen. Bergerhoff und sein Team schalten eine Notfallnummer frei, um den Notruf der Rettungskräfte zu entlasten.

21.30 Uhr

Das Technische Hilfswerk (THW) ist vor Ort angekommen und prüft die Diepentalsperre. Die Experten schätzen sie stabil ein. Krisenstabsleiter Ingolf Bergerhoff ist beruhigt und schreibt dem Bürgermeister, dass alles unter Kontrolle ist. Immer wieder kommen Dammfachleute vom THW und schauen sich die Situation vor Ort an.

21.45 Uhr

Ingolf Bergerhoff bekommt im Krisenstab die Information, dass die Bogenbrücke der Flut vielleicht nicht standhalten wird. Der Wasserdruck hat bereits die ersten Betonteile der Brücke abgesprengt.

22.50 Uhr

Langsam hört es auf zu regnen und Hoffnung macht sich breit, dass sie mit einem „blauen Auge“ davongekommen sein könnten. Dann ruft aber der Wupperverband ruft an und verkündet: Die große Wuppertalsperre kann das Wasser nicht mehr halten und ein Teil muss abgelassen werden. In zwei bis drei Stunden trifft eine Flutwelle die Stadt.

Bisher sind die wenigsten Stadtteile überschwemmt. Laut Hochwasserkarte des Wupperverbands wird sich das in den nächsten Stunden rasant ändern: Alles, was direkt an der Wupper liegt, ist jetzt nicht mehr sicher.

Es muss schnell gehen: Die Feuerwehr fährt mit Sirene am Wupperufer entlang, aus Lautsprechern kommt immer wieder die Ansage: „Sofort raus aus dem Haus oder mindestens in den ersten Stock“, erzählt Bergerhoff.

Der Hausmeister der Mensa, die schon den ganzen Abend als Notunterkunft dient, ruft Bergerhoff im Krisenstab an. Laut Hochwasserkarte soll sie vor den Wassermassen sicher sein, aber draußen steht schon das Wasser, und auch die angrenzende Schule läuft voll.

Bergerhoff beschließt, die Menschen in Sicherheit zu bringen – in Unterkünfte auf beiden Seiten der Wupper, denn die Bücken werden bald nicht mehr passierbar sein. Er weicht auf die Schule Kirchstraße und die Grundschule Uferstraße aus.

Erst am nächsten Tag wird klar: Die Mensa ist trocken geblieben, aber nur knapp. Die große Baugrube vor dem Rathaus läuft hingegen vollläuft. Bisher hatte sie das Rathaus vor einer Überschwemmung durch die Wupper geschützt, doch jetzt läuft das Gebäude voll.

Gegen 23 Uhr

Bergerhoff muss sich keine Sorgen um sein eigenes Haus im Kölner Norden machen. Dann ruft seine Frau ihn an. Er solle trotzdem nach Hause kommen, der Keller ihrer Mutter laufe voll. Seine Antwort: „Tut mir leid, das geht nicht. Bei mir läuft gerade die Stadt voll.“
Ingolf Bergerhoff
Ingolf Bergerhoff
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15. Juli 2021

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Gegen 0 Uhr

Krisenstab-Chef Ingolf Bergerhoff lässt Mitarbeiter des Ordnungsamts die Brücken sperren. Es besteht inzwischen die Gefahr, dass die Fluten sie aus ihren Verankerungen heben. Das passiert zum Glück nicht.

Aber die Wassermassen schwemmen die Pflastersteine der Bogenbrücke weg, und Treibgut reißt Stromleitungen von ihr ab.


Bergerhoff ruft im Altenheim Hasensprung an und fragt, wie es aussieht. Das Gebäude liegt tief, falls Wasser ins Transformatorhaus liefe, hätte es keinen Strom mehr.

Bergerhoff und die Heimleitung beschließen, die Beatmungspatienten vorsorglich zu evakuiert.

kurz vor 1 Uhr

Bergerhoff entscheidet den Strom im Rathaus abzuschalten. Die Notfallnummer ist damit nicht mehr erreichbar und es ergibt sich ein weiteres Problem: Der Mobilfunkmast von Vodafone auf dem Dach fällt mitten in der Nacht aus. Tausende Leichlinger haben keinen Empfang mehr.

Währenddessen steigt der Wasserpegel weiter: um fünf Zentimeter in zehn Minuten.

3 Uhr
Der Krisenstab verzeichnet immer noch einen leichten Anstieg des Pegels.  


4 Uhr

Ingolf Bergerhoff und seine Kollegin vom Ordnungsamt sitzen immer noch im Feuerwehrhaus im Krisenstab. Sie beschließen, die erste Pause der Nacht einzulegen. Bergerhoff nutzt die Zeit, um in sein Haus nach Köln zu fahren, zu duschen und etwas zu essen. An Schlaf ist nicht zu denken.

Immer wieder rufen Kollegen aus Leichlingen an, er muss wichtige Entscheidungen treffen. Der Krisenstab nimmt mehrere Stadtteile vom Stromnetz, unter anderem Brückerfeld und den Marktplatz.

ca. 10 Uhr

Ingolf Bergerhoff hat fast die ganze Nacht im Feuerwehrhaus verbracht und sich telefonisch auf dem aktuellen Stand halten lassen. Vormittags beschließt er, selbst in die Stadt zu fahren und sich die Lage im überfluteten Rathaus genauer anzuschauen. „Es war katastrophal“, erinnert er sich. „Unvorstellbar“. Feuerwehr und Helfer pumpen viele Häuser aus.

Am Ende spricht die Feuerwehr von ca. 500 Kellern, die sie ausgepumpt hat. Bergerhoff sucht nach einer Möglichkeit, die Bevölkerung zu informieren. Da es keinen Strom gibt und die meisten Smartphones kaum noch Akku haben, lässt er die Feuerwehr mit mehreren Lautsprecherwagen durch die Stadt fahren.

Zusätzlich richten die Stadtverwaltung und Feuerwehr zwei Infopunkte ein. 


Gegen 18 Uhr


Bürgermeister Frank Steffes erreicht Leichlingen und übernimmt sofort die Leitung des Krisenstabs.

Epilog

Letztendlich werden ca. 2900 Menschen vom Hochwasser bedroht. Nicht alle müssen evakuiert werden. Und viele Situationen werden erst in den daraufkommenden Tagen problematisch.

So ist beispielsweise der Damm des Angelteichs oberhalb des Altenheims Hasensprung durchweicht und droht zu brechen. Er muss abgelassen werden.

Obwohl die Feuerwehr das Wasser mit Sandsäcken kontrolliert abfließen lassen will, evakuiert sie vorsorglich das Altenheim und ein Wohnviertel.

Schon wieder steht Bergerhoff vor panischen Menschen, die Angst um ihre Lieben haben. Bei der Sperrung der Zufahrtsstraße wird Bergerhoff fast überfahren – von jemandem der zu seiner Familie will, die noch in einer Wohnung is.
- aufgezeichnet von Annika Jost
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Matthias Winzer

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Auf Schloss Eicherhof, das Manfred Ackermann und Matthias Winzer seit knapp 20 Jahren führen, liefen in der Woche der Flutnacht die Vorbereitungen auf acht standesamtliche Hochzeiten sowie eine größere Feier. Die Coronakrise war nicht vorbei, erste Veranstaltungen jedoch wieder möglich.

Ackermann und Winzer leben in Solingen, von wo aus sie im Laufe des Mittwochs den Wetterbericht verfolgten, sich aber nicht weiter darum sorgten. Größere Wassermengen gab es in den Vorjahren immer wieder und mehr als ein nasser Keller war bisher nie die Folge gewesen.


14. Juli 2021

etwa 20 Uhr

Ackermann und Winzer sind in ihrer Wohnung. Auch in Solingen regnet es erstaunlich viel, allerdings liegt die Stadt etwas erhöht, sodass keine Gefahr hinsichtlich Überschwemmungen zu befürchten waren.

Im Laufe des Abends treffen zunehmend Nachrichten ein, dass es am Arbeitsort der beiden, in Leichlingen, heftige Überschwemmungen gebe. Nach ersten Telefonaten mit Bekannten aus dem Ort, wollen die Schlossleiter nach Leichlingen fahren. Um zu sehen, wie es um das Schloss steht und, viel wichtiger, den Ort und die Menschen.

Bleibt in Sicherheit, sagen ihnen die Bekannten vor Ort. Sie kämen vermutlich ohnehin nicht mit dem Auto durch.

Auf dem Grundstück des Schlosses wohnt eine Familie, die für die Schlossbetreiber zunächst nicht erreichbar ist. Das Netz ist ausgefallen.

Die Tochter der Familie ist nicht auf dem Gelände und berichtet den beiden, dass es ihrer Familie gut gehe. Sie habe kurz mit ihnen sprechen können.
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8:30 Uhr

Die Nachrichten mehrten sich im Laufe der Nacht und wurden drastischer. Die Schlossbetreiber Manfred Ackermann und Matthias Winzer erwarten das Schlimmste, was sich im Moment, da sie in die Stadt einfahren, bestätigt.

Autos stehen quer auf den schmutzigen Straßen, Gullideckel und das, was diese unter sich verschließen sollen, sind auf den Wegen verteilt.

Matthias Winzer wird sich an diese Fahrt als die schlimmste seines Lebens erinnern.

Schloss Eicherhof liegt an der Straße Am Hammer, die völlig überschwemmt ist. Das Betreiberpaar bahnt sich seinen Weg durch zu seinem Arbeitsplatz, dem Schloss.

Dort trifft es sie völlig anders, als sie es erwarteten.

Es ist beinahe nichts zu sehen, kein Schaden. Um das traum-, gar disneyhafte Bild des Schlosses zu vollenden, fehlen bloß einige Sonnenstrahlen und singende Vögel, denkt Winzer in diesem Moment.

Als sie ins Schloss treten, finden sie im Keller erste Anzeichen darauf, dass sich in der Nacht eine der schlimmsten Wetterkatastrophen der vergangenen Jahrzehnte zutrug. Der Keller ist zugelaufen, was bei einem über 200 Jahre alten Gebäude wenig verwundert.

Im Garten hinter dem Schloss stehen gut fünf Zentimeter Wasser, mehr ist nicht zu sehen.

Zu Winzers Gefühlen gehören gleichzeitig die Erleichterung darüber und Scham dafür, dass es sie nicht so hart getroffen hat, wie viele andere.

Das Schloss liegt auf einem wenige Meter hohen Plateau. Allerdings kann man die Wupper durch die Fenster an der hinteren Seite des Gebäudes sehen, so nah ist sie. Weiter als bis in den Garten fand das Wasser dennoch nicht, denn zu der erhöhten Lage kommen schützend die vielen umliegenden Felder, die ihrerseits etwas tiefer liegen. So war das Schloss geschützt.


ab 11 Uhr


Während in der Stadt viele Menschen die Reste ihrer Existenz begutachten, mussten Ackermann und Matthias Winzer, entscheiden, wie sie mit den Hochzeiten am folgenden und der Feier am darauffolgenden Tag umgehen wollten.

Die Dokumente, die die Standesbeamtinnen für die Trauungen benötigten, lagen bereits im Schloss und nicht im überfluteten Rathaus.

Der Strom war in der Nacht ausgefallen. Die Nachbarn hatten einen Generator, der dieses Problem beseitigte. Die Hochzeiten könnten also stattfinden. Dochdie viel größere Frage ist, ob sie auch stattfinden sollten.

Rat- und hilflos standen die Schlossbetreiber vor einem Dilemma.


Ab 14 Uhr bis in die Nacht


Von vornherein stand fest, dass keine richtige Entscheidung getroffen werden könnte. Sollte Pietät gegenüber den in Not geratenen Menschen in der Stadt die Entscheidung leiten oder und die Verpflichtung zu über Jahre geplanten Eheschließungen, die auch vertraglich vereinbart waren.

Matthias Winzer sei kurz davor gewesen, sich eindeutig gegen die Veranstaltungen zu entscheiden. Schließlich entscheidet das Pflichtbewusstsein gegenüber dem Beruf und so begegneten sich am Tag der Feier die beiden Welten.

Während im Spiegelsaal des Schlosses gefeiert wurde, kamen verdreckte Helfende durch das Gebäude, um so viel Kaffee wie möglich für die Betroffenen im Ort zu besorgen und einige Snacks abzuholen.

Kurz nach der Entscheidung rufen Ackermann und Winzer die Hochzeitsgäste an, teilen ihnen mit, dass die Feiern stattfinden werden und bitten sie darum, dezent anzureisen, ohne hupende Autokonvois, aus deren Fenstern Ballons hängen.

In den folgenden Tagen erreichen die beiden aber Anrufe von Bekannten, die sich über einen lauten Konvoi beschweren. Mehr als die Feiernden darum zu bitten, hätten sie nicht tun können, sagt Winzer und ist dennoch beschämt deswegen und erbost über die Unachtsamkeit seiner Gäste.
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Die Tage der Flut sind dem Betreiberpaar von Schloss Eicherhof auf bittere Art in Erinnerung.

Die Situation, in Festtagskleidung durch einen im Chaos versunkenen Ort zu fahren, führt bis heute zu dem beschämten, um Fassung und Professionalität ringenden Gefühl, wie die Schlossbetreiber es in den Tagen nach der Flut empfanden.

Das Schloss war derart wenig von den Wassermassen betroffen, dass es im Nachgang kaum eine Lehre aus der Situation geben konnte. Offenbar ist die räumliche Lage so gut, dass selbst diese Mengen kaum eine Chance haben, das Schloss zu verwüsten.

Jedoch bleibt Ackermann und Winzer die Erkenntnis, dass man sich auf nichts verlassen kann. Erst Corona, dann die Flut und dann wieder Corona – gerade Veranstaltungen zu planen, ist schwieriger geworden.

Worauf man sich allerdings verlassen könne, so die beiden, sei die Solidarität und Hilfsbereitschaft der allermeisten, besonders in Leichlingen
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Jens Weber

14. Juli 2021

Jens Weber
Jens Weber
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22:30 Uhr

Jens Weber, stellvertretender Vorsitzender des Presbyteriums der evangelischen Kirche in Leichlingen, ist mit seinem Auto auf dem Weg in die Innenstadt von Leichlingen. Hier schlängelt sich die Wupper normalerweise friedlich durch den Ort. Heute Abend ist die Wupper zu einem reißenden Fluss geworden.

23 Uhr


Auf der Marly-Le-Roi Brücke haben sich Schaulustige versammelt und filmen, wie die Wassermassen unter der Brücke gefährlich ansteigen. Jens Weber hat sein Auto einige Meter vor der Brücke abgestellt und trägt an seinen Füßen Badelatschen. Mit seinem Handy filmt er um 23:04 Uhr, wie die Wassermassen auf die Höhe der Brücke steigen. Zwischen Wasser und Brückenboden passt jetzt keine Hand mehr.

23:30 Uhr

Weber steht auf der Brücke und blick auf die evangelische Kirche. Eine Barockkirche, zwischen 1753 und 1756 nur wenige hundert Meter weiter flussaufwärts direkt an der Wupper erbaut. Das Wasser steht zu diesem Zeitpunkt auf der Höhe einer Mauer, die die steile Böschung von dem Kirchengelände trennt.

Hinter der Mauer liegt zwischen dem Wasser und dem Gemeindehaus nur noch ein schmaler Gehweg. Das Wasser wird die Wohnung des Küsters im Gemeindehaus zuerst erreichen.

Presbyter Weber ist klar, dass das Wasser für die Kirche und das Gemeindehaus zur Gefahr wird. Er will helfen und läuft ohne lange zu überlegen zur Kirche. Von einem anderen Gemeindemitarbeiter weiß er, dass der Küster selbst nicht zuhause ist. Doch dessen Sohn ist noch in der Wohnung.

Weber rennt zur Haustür der Küsterwohnung und klingelt Sturm. Der Sohn des Küsters hat sich erst vor wenigen Minuten zum Schlafen in sein Bett gelegt. Es bleibt nur zu hoffen, dass er die Klingel hört.

Wie lange er vor der Tür warten muss, weiß Jens Weber heute nicht mehr. Er weiß nur noch, wie froh er ist, als der Junge schließlich an die Tür kommt. „Vielleicht haben wir tatsächlich ein Menschenleben gerettet“, sagt Weber.
Die Wupper übersteigt nur wenig später die schützende Mauer.

23:45 Uhr


Im Keller des Gemeindehauses lagern viele Musikinstrumente. Jens Weber überlegt als stellvertretender Vorsitzender des Presbyteriums nicht lange und beschließt nach unten zu gehen und zu retten, was zu retten ist. Anfangs beginnt er die Trompeten und Keyboards auf Tische zu stellen, so dass das Wasser sie nicht erreichen kann. „Da habe ich aber schnell gemerkt, dass das nicht lange reichen wird“, sagt Weber.

Das Wasser aus der Wupper drückt zuerst gegen die schmalen Kellerfenster, die nur wenige Meter über dem normalen Wasserstand der Wupper liegen. Zuerst bricht das Wasser in den Heizungskeller ein und zerstört die Heizungsanlage des Gemeindehauses und der Kirche.   Sogar der Putz an den Wänden bricht jetzt auf.

An den aufgeplatzten Stellen sprudelt das Wasser ungehindert in den Keller. Jens Weber weiß, dass er nicht mehr viel Zeit hat. Insgesamt dauert die Rettungsaktion im Keller nur etwa 15 Minuten. So schnell nehmen die Wassermassen den Keller des Gemeindehauses ein. Jens Weber schafft es noch, ein teures und schweres E-Piano der Gemeinde aus dem Keller nach oben zu wuchten.

Die meisten anderen Instrumente werden vom Wasser verschluckt. Unbeschädigt bleibt in dieser Nacht keines der Instrumente. Auch das E-Piano muss repariert werden und steht seit der Flut in der privaten Garage von Jens Weber.
Jens Weber
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Kurz nach Mitternacht

Der stellvertretende Vorsitzende des Presbyteriums der evangelischen Gemeinde in Leichlingen, Jens Weber, will nach seinem Auto sehen. Vor etwa anderthalb Stunden hat er es ein paar Meter von der Kirche entfernt abgestellt, um im Gemeindehaus gegen die Flut zu kämpfen.

Barfuß tritt er auf den Vorplatz des Gemeindehauses, der etwas höher als die Kirche liegt. Die Badelatschen, die er zuvor getragen hat, sind im Eifer des Gefechtes zu Ballast geworden. Durch das braune Wasser lässt es sich besser barfuß warten.

Sechs Stufen muss Weber herabsteigen, um auf die Höhe der Kirche zu kommen. „Die letzten drei musste ich mit meinen Füßen ertasten, weil das schlammige Wasser sie bereits verschluckt hatte“, erinnert er sich.

Auf dem Weg zum Auto kommt Jens Weber an der mächtigen Kirchentür aus Holz vorbei. Auch an ihr klettert das Wasser empor. Wie es im Inneren aussieht, weiß an diesem Abend niemand. Später wird sich zeigen, dass die kräftigen Türen tatsächlich größeren Schaden verhindern konnten.

Das Wasser ist allerdings bis zu den Sitzflächen der Kirchenbänke gestiegen und hat vor allem diese und eine neue Orgel zerstört, die noch auf dem Kirchboden stand. Heute ist klar, dass die Bänke und der Boden in der Kirche erhalten werden können.

Am Auto angekommen sieht Jens Weber, dass die Reifen seines Autos bereits bis zur Hälfte im Wasser versunken sind. Als er hier geparkt hatte, erschien ihm dieser Parkplatz noch sicher. Jetzt hat er Glück, dass die Wupper noch nicht das Innere seines Autos erreicht hat.

Weber parkt sein Auto um und hört dabei die Sirenen der Stadt aufheulen. Er kennt das Geräusch. Alle drei Monate um 12 Uhr kreischen die Sirenen zur Probe durch Leichlingen. Heute aber ist es ernst.

Zivilschutzalarm: Eine Minute auf- und abschwellende Heultöne. Auch Webers 13-jährige Tochter hört den Alarm und bekommt Angst. Sie ist alleine zu Hause. Sie ruft ihren Vater an und fragt, ob sie sicher sei.

„Zum Glück konnte ich ja sagen. Wir wohnen auf einem Hügel, den die Wupper wohl nicht erreichen würde“ erzählt Weber. Er verspricht schon bald nach Hause zu kommen.

Am Gemeindehaus droht das Wasser mittlerweile in das Erdgeschoss einzudringen. Die Fluten drücken bereits gegen die Rückfenster des großen Gemeindesaals. Auch hier wird das Wasser eindringen und die Räume zerstören.


2:00 Uhr

Weber kommt an diesem Abend gegen 2 Uhr nach Hause. Zum Glück liegt Webers Haus auf einen Hügel, den das Wasser nicht erreicht hat. Mit seiner Tochter geht er die steile Brückenstraße von ihrem Haus nach unten in die Leichlinger Innenstadt. Weit kommen sie nicht. Das Wasser steht noch zu hoch.

Die Zerstörung in den Geschäften weiter unten können sie nur erahnen. Am Eiscafé Dolomiti bleiben sie stehen. Bis hierhin ist das Wasser nicht gekommen. Jetzt können Vater und Tochter beobachten, wie der Pegelstand langsam absinkt.


Epilog

Auch knapp ein Jahr nach der Flut ist hier der getrocknete erdige Staub auf dem Boden verteilt, den das Wasser mit in das Kirchengebäude gespült hat. Wann hier wieder Gemeindefeste stattfinden können, ist bis heute unklar.
Insgesamt liegt der Schaden im siebenstelligen Bereich. Genaue Zahlen zur Schadenshöhe gibt es noch nicht.


- protokolliert von Lukas Rosendahl
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Wolfgang Richter

14. Juli 2021

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9 Uhr

Es regnet seit gestern Nachmittag. Im Sportgeschäft von Wolfgang Richter  an der Gartenstraße 4 kommt eine Lieferung Schuhe an. Er stellt die Kartons im Lager auf den Boden, muss sie noch etikettieren. Mittwochs ist Markt in Leichlingen, es kommen kaum Kunden ins Sportgeschäft.

Richters Mitarbeiterin schmeißt den Laden allein, er will nach Köln fahren, um einem Freund beim Umzug zu helfen. Noch denkt er, Sommerregen tut der Natur gut.


18 Uhr

Die Mitarbeiterin ruft Richter an, der noch in Köln mit dem Umzug seines Bekannten beschäftigt ist – bei ihrer Tochter in Leichlingen sei der Keller vollgelaufen.
Also macht sich der Unternehmer auf den Weg zurück. Dort genügt ein Blick auf die Wupper, um ihn zu beruhigen: Das Wasser steht immer noch fast zwei Meter unterhalb zur Oberkante der Ufermauer: keine Überschwemmung in Sicht.

Richter hilft seiner Kollegin, Wasser aus dem Keller ihrer Tochter zu schöpfen. Mehr als vier Stunden dauert das. Während sie schuften, hört der Regen auf.


22.30 Uhr

Richter ist noch einmal zu seinem Laden gefahren. Er wirft Pappe in den Container, morgen ist Altpapier-Abholung. Er macht die Kasse und schließt den Laden ab. Danach geht er runter zur Wupper – es sind nur 200 Meter bis zum Ufer.

Der Fluss ist gut gefüllt und passt gerade noch unter die Brücke. 30 Zentimeter mehr, und die Wupper würde überlaufen.


23 Uhr

Wolfgang Richter sieht, wie das Wasser Baumstämme gegen die Mauern der Funchal-Brücke prallen lässt, kurz darauf wird die Brücke von der Stadt gesperrt. Trotzdem ist der Sportler und Händler unbesorgt. Es regnet ja nicht mehr.

Auf dem Marktplatz sieht er, wie die Tiefgarage unter dem Sanitärhandel von Peter Graichen im Brückerfeld vollläuft. Richter ist rastlos, dreht eine Runde in der Leichlinger Innenstadt.

Wieder auf der Funchal-Brücke trifft er Maurice Winter (CDU), einen stellvertretenden Bürgermeister, der allerdings nur repräsentative Aufgaben hat, und dessen Lebensgefährtin. Alle drei sind entspannt und schauen fasziniert der Wupper zu. Noch ist die Brücke trocken.

Danach hilft Richter, wo er kann. Mit zwei anderen Männern wuchtet er ein Auto aus dem Wasser – es ist im Kreisverkehr vor der Funchal-Brücke abgesoffen. Sie schieben den Wagen die Montanusstraße hoch in Richtung Busbahnhof. Kaum wieder auf dem Trockenen, springt das Auto an.

Richter sieht: Der Blumenpavillon am Busbahnhof steht unter Wasser, genauso die Adler-Apotheke gegenüber. Letztere befindet sich an der Ecke Kirchstraße und Gartenstraße – der Straße, in der auch sein eigenes Geschäft liegt.


Kurz vor 24 Uhr

Richter hört Gerüchte: Die Wuppertalsperre sei aufgemacht worden. Was bedeutet das für Leichlingen? Steigt das Wasser weiter? Welche Wohnhäuser, welche Geschäfte wird es treffen?
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0 Uhr

Sportartikelverkäufer Richter sieht hilflos zu, wie die Wupper Leichlingen flutet. Ihm fällt ein, dass sein eigenes Auto ja noch an der Realschule an der Wupper steht und vielleicht überflutet werden könnte. Er watet durch knietiefe Fluten. Der Wagen steht zwar noch trocken, aber die Straßen sind überschwemmt.

Also fährt Richter über den Vorplatz der Schule, die Bürgersteige, hoch zum Gymnasium. Er parkt den Wagen weiter oben am Hang, wo er sicher ist, läuft runter zu seinem Geschäft.

Das Wasser steht zwar schon in der Gartenstraße, aber er ist optimistisch: Sein Laden liegt zwei Treppenstufen über Straßenniveau, das Wasser müsste noch mehr als einen halben Meter höher steigen, bevor es gefährlich wird. Nie hat es eine der vielen Fluten dorthin geschafft.

Es knallt laut, und auf einmal sind die Lichter aus: Das Wasser ist in den Stromkasten auf der Straße gesickert.

Richter macht ein Foto mit dem Handy. Das Lederwarengeschäft nebenan hat es erwischt. Ein Autoreifen kommt angeschwommen, in der Not greift Ritter ihn sich, legt ihn vor die Tür, um zu verhindern, dass mehr Wasser eindringt – doch der Reifen treibt einfach weiter. 


1 Uhr

Jetzt ist das Wasser fast im Sportgeschäft von Wolfgang Richter. Er beobachtet, wie der Pegel steigt – über die erste Treppenstufe, die zweite, Richter legt notdürftig zwei Plastikschalen mit Steinen vor die Tür. Es bringt nichts, das Wasser quillt unter der Ladentür durch.

Richter schaut auf sein Handy. Es ist 1:20 Uhr. Ute Richter schläft, während Wolfgang Richter zuschauen muss, wie Leichlingen versinkt.

Richter findet, dass seine Frau das mit eigenen Augen sehen muss. Er fährt nach Hause, weckt sie, und die beiden fahren zum Sportgeschäft. Die Ladentür lässt das Ehepaar zu. Bald steht das Wasser draußen höher als drinnen.


1.45 Uhr

Die geflutete Straße erinnert an eine Seenlandschaft. Die beiden fahren bald wieder nach Hause. Sie wollen schlafen und Kraft tanken, um morgen aufzuräumen.


5 Uhr

Ute Richter steht auf, sie hat einen Termin im benachbarten Hilden. Für die Strecke braucht sie normalerweise 20 Minuten, jetzt weiß sie nicht, welche Wege gesperrt sind. Nur über Umwege kommt sie an – nach mehr als zwei Stunden.


9 Uhr

Wolfgang Richter hat gefrühstückt und fährt runter nach Leichlingen zu seinem Sportgeschäft: Das Wasser ist abgeflossen, fünf bis zehn Zentimeter Schlamm bedecken die 300 Quadratmeter Verkaufsfläche.

An den Wänden sieht Richter, dass das Wasser bis zu dreißig Zentimeter hoch im Laden gestanden haben muss, vierzig waren es draußen.

Richter holt Wasserschieber, Besen und Eimer von zu Hause, seine Tochter, seine Ex-Frau, seine Mitarbeiterin und Freunde kommen ihm zu Hilfe. Den ganzen Tag schieben und kehren sie Schlamm aus dem Laden.

Geistesgegenwärtig reißt er die Etiketten von aufgeweichten Kartons ab und legt sie zu den Schuhen, die er später trocknen will. Er hebt sich die Zettel von kaputter Ware für die Versicherung auf, darunter die Schuhe, die erst gestern angekommen sind.

Dann wirft er sie auf die Müllhaufen, die sich in der Gartenstraße auftürmen. Wie Richter misten auch andere Ladenbesitzer und Anwohner in großem Stil aus. Lkw fahren die Berge an Sperrmüll in Containern weg.



Epilog

Die Aufräumarbeiten dauern mehrere Tage. Über eine Woche lang hat der Laden keinen Strom. Richter denkt, er hat in den Tagen nach der Flut den Laden so gut gesäubert, dass er bald wieder öffnen kann. Doch der Schein trügt. Über Stunden haben die Regale im Wasser gestanden. Die Schäden kommen erst später zum Vorschein: Es stinkt und schimmelt. Der Laden selbst ist immerhin versichert.

Als die Fliesen im Geschäft von den Handwerkern zertrümmert werden, sieht Richter erst, wie extrem das Wasser den Boden angegriffen hat. Aus den isolierten Stromleitungen läuft Wasser, als die Elektriker sie rausreißen.

Als Geschädigter hat Richter 5.000 Euro Soforthilfe erhalten, doch das reicht nicht für eine neue Ausstattung. Richter muss an die Reserven gehen. Der 63-Jährige ist wild entschlossen, den Laden wieder aufzumachen.

Noch immer hat er viele Fragen, wie es zu der Katastrophe kommen konnte und wie sie bewältigt wurde. Eine davon: Warum wurde er nicht gewarnt?
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Die Recherche

Diese Dokumentation ist eine Kooperation von Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft e.V. (KJS) und Kölner Stadt-Anzeiger.

Die Idee einer umfassenden Dokumentation der Flutgeschehnisse am Beispiel einer Kommune war schnell geboren - schon in den ersten Wochen nach dem Ereignis, das Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Juli 2021 erschütterte. Gemeinsam mit der KJS entstand dann die Idee einer Kooperation.

Der Ausbildungsjahrgang 2019 der Journalistenschule recherchierte in der Blütenstadt zwischen Praktika und Universität. Der Kölner Stadt-Anzeiger bereitete die Ergebnisse auf und ergänzte sie teilweise.

Die Wahl auf Leichlingen war aus mehreren Gründen gefallen: Im Erscheinungsgebiet des Kölner Stadt-Anzeiger waren im Juli 2021 zahlreiche Gemeinden heftig von der Flut getroffen worden. Besonders viel Aufmerksamkeit erhielt Erftstadt-Blessem, aber auch viele Orte in der Eifel.

48 Stunden Leichlingen soll deutlich machen, dass die Katastrophe viele Orte erfasste. Auch dort starben Menschen, viele verloren ihre Existenz. Und gleichzeitig entfaltete sich ein Gemeinschaftsgefühl, bildete sich eine Welle der Hilfsbereitschaft und kämpften sich Menschen mit immenser Willenskraft zurück.
Ein besonderer Dank gilt allen Protagonistinnen und Protagonisten, die mitgemacht haben. Nicht alle konnten wir in der Dokumentation berücksichtigen.
Die Menschen aus Leichlingen steuerten nicht nur ihre Erlebnisse bei, sie gaben Einblicke in ihre Fotoaufnahmen und Videos.

Mitgewirkt haben

Kölner Journalistenschule, Ausbildungsjahrgang 2019
  • Laura Alviz
  • Jakob Arnold
  • Alice Beckmann Petey
  • Adrian Breitling
  • Lisa Breuer
  • Kevin Gallant
  • Lukas Homrich
  • Dominik Jäger
  • Annika Jost
  • Robert Laubach
  • Hannah Mertens
  • Maurice Mommer
  • Lukas Rosendahl
  • Marie Scholl
  • Felix Stippler
  • Hannah Waltersberger
Ausbildungsbetreuer:
  • Christina Gruber
  • David Selbach

Kölner Stadt-Anzeiger

Projektkoordination: Martin Dowideit

Grafik: Tobias Hahn

Produktion: Martin Dowideit, Christine Badke

Recherche: Jahrgang 2019 der Kölner Journalistenschule, Martin Dowideit, Hans-Günter Borowski

Technik: Nicolas Krizsak

Video: Christian Mack, Moritz Wüst
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